Wahrheit.
1) Gebiet der Wahrheit und Bedeutung des Prädikats wahr
.
(S. unter Grund: Satz vom Grunde des Erkennens.)
2) Die vier Arten der Wahrheit.
(Daselbst.)3) Unterschied zwischen Realität und Wahrheit.
(S. Irrtum.)4) Gegensatz zwischen Wahrheit und Irrtum.
(S. Irrtum.)5) Unterschied zwischen Denkbarkeit und Wahrheit.
(S. unter Urteil: Unterschied zwischen Denkbarkeit und Wahrheit der Urteile.)6) Unterschied zwischen richtig
, wahr
, real
, evident
.
(S. Evidenz.)
7) Verhältnis des Beweises zur Wahrheit.
(S. Beweis.)8) Vorzug der unmittelbar begründeten Wahrheit vor der durch Beweis begründeten.
(S. Beweis und Gewissheit.)9) Verhältnis der allgemeinen zu den speziellen Wahrheiten.
Jede allgemeine Wahrheit verhält sich zu den speziellen, wie Gold zu Silber, sofern man sie in eine beträchtliche Menge spezieller Wahrheiten, die aus ihr folgen, umsetzen kann, wie eine Goldmünze in kleines Geld. Hierauf beruht der Wert der allgemeinen Wahrheiten im Physikalischen, wie im Moralischen und Psychologischen. (P. II, 22.)10) Unterschied zwischen einseitiger und allseitiger Wahrheit.
Keine aus objektiver, anschauender Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht kann durchaus falsch sein, sondern sie ist im schlimmsten Fall nur einseitig. Jede solche Auffassung ist nämlich nur von einem bestimmten Standpunkte aus wahr. Erhebt man sich aber über den Standpunkt, so erkennt man die Relativität ihrer Wahrheit, d. h. ihre Einseitigkeit. Nur der höchste, Alle übersehende und in Rechnung bringende Standpunkt kann absolute Wahrheit liefern. (P. II, 13 fg.)11) Übereinstimmung der Wahrheit mit sich und mit der Natur und Zusammenhang aller Wahrheiten.
Nur die Wahrheit kann durchgängig mit sich und mit der Natur übereinstimmen; hingegen streiten alle falschen Grundansichten innerlich mit sich selbst und nach Außen mit der Erfahrung, welche bei jedem Schritte ihren stillen Protest einlegt. (E. 258.) Eine Wahrheit kann nie die andere umstoßen, sondern alle müssen zuletzt in Übereinstimmung sein, weil im Anschaulichen, ihrer gemeinsamen Grundlage, kein Widerspruch möglich ist. Daher hat keine Wahrheit die andere zu fürchten. Trug und Irrtum hingegen haben jede Wahrheit zu fürchten. (W. II, 114.)
Die Wahrheiten hängen alle zusammen, fordern sich, ergänzen sich,
während der Irrtum an allen Ecken anstößt. (P. II, 253; I, 136.)
13) Gegensatz zwischen physikalischen und moralischen Wahrheiten.
(S. unter Moral: Wichtigkeit der moralischen Untersuchungen.)14) Haupthindernisse der Erkenntnis und Anerkennung der Wahrheit.
Das ist der Fluch dieser Welt der Not und des Bedürfnisses, dass diesen Alles dienen und frönen muss; daher eben ist sie nicht so beschaffen, dass in ihr irgend ein edles und erhabenes Streben, wie das nach Licht und Wahrheit ist, ungehindert gedeihen und seiner selbst wegen da sein dürfte. Sondern selbst wenn ein Mal ein solches sich hat geltend machen können und dadurch der Begriff davon eingeführt ist; so werden alsbald die materiellen Interessen, die persönlichen Zwecke, auch seiner sich bemächtigen, um ihr Werkzeug oder ihre Maske daraus zu machen. (W. I, Vorrede XVII.)
Ein Haupthindernis der Wahrheit ist auch das Vorurteil.
(Vergl. Vorurteil.)
Es ist ganz natürlich, dass wir uns gegen jede neue, unser bisheriges
System umstoßende Wahrheit abwehrend und verneinend verhalten. Eine
uns von Irrtümern zurückbringende Wahrheit ist einer Arznei zu
vergleichen, sowohl durch ihren bitteren und widerlichen Geschmack, als
auch dadurch, dass sie nicht im Augenblick des Einnehmens, sondern
erst nach einiger Zeit ihre Wirkung äußert. (P. II, 63.)
15) Langsame Verbreitung der Wahrheit.
(S. unter Reisen: Eine besondere Beobachtung, die man auf Reisen machen kann.)16) Die Gewalt der Wahrheit.
Die Gewalt der Wahrheit ist unglaublich groß und von unsäglicher Ausdauer. Wir finden ihre häufigen Spuren wieder in allen, selbst den bizarrsten, ja absurdesten Dogmen verschiedener Zeiten und Länder, zwar oft in sonderbarer Gesellschaft, in wunderlicher Vermischung, aber doch zu erkennen. (W. I, 163 fg.)
Wann eine neue und daher paradoxe Grundwahrheit in die Welt
kommt, so wird man zwar allgemein, hartnäckig und möglichst lange
sich ihr widersetzen. Inzwischen wirkt sie im Stillen fort und frisst,
wie eine Säure, um sich, bis Alles unterminiert ist. (P. II, 507. 511.
15. E. 111. P. I, 286.)
Zwar so lange, als die Wahrheit noch nicht dasteht, kann der Irrtum
sein Spiel treiben, wie Eulen und Fledermäuse in der Nacht;
aber eher mag man erwarten, dass Eulen und Fledermäuse die Sonne
zurück in den Osten scheuchen werden, als dass die erkannte und deutlich
und vollständig ausgesprochene Wahrheit wieder durch den alten
Irrtum verdrängt werde. Das ist die Kraft der Wahrheit, deren
Sieg schwer und mühsam, dafür aber, wenn einmal errungen, ihr
nicht mehr zu entreißen ist. (W. I, 42. N. 8. Vergl. auch Irrlehre.)
17) Das Schicksal der Wahrheit.
Der Wahrheit ist allezeit nur ein kurzes Siegesfest beschieden zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird. (W. I, Vorrede XV.)
(Über die Paradoxie der Wahrheit vergl. Paradoxie.)
18) Unvereinbarkeit des Strebens nach Wahrheit mit dem Verfolgen persönlicher Zwecke.
Die, deren Triebfeder persönliche, amtliche, kirchliche, staatliche, kurz reale, nicht ideale Zwecke sind, werden trotz des Scheins von Streben nach Wahrheit, den sie sich geben, doch nimmer die Wahrheit fördern. Denn die Wahrheit ist keine Hure, die sich Denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren; vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, dass selbst wer ihr Alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiss sein darf. (W. I, Vorrede XVIII.)
Wie sollte der, welcher für sich, nebst Weib und Kind, ein Auskommen
sucht, zugleich sich der Wahrheit weihen? der Wahrheit, die
zu allen Zeiten ein gefährlicher Begleiter, ein unwillkommener Gast
gewesen ist, — die vermutlich auch deshalb nackt dargestellt wird,
weil sie nichts mitbringt, nichts auszuteilen hat, sondern nur ihrer
selbst wegen gesucht sein will. Zweien so verschiedenen Herren, wie der
Welt und der Wahrheit, lässt sich nicht zugleich dienen. Das Unternehmen
führt zur Heuchelei. (P. I, 165.)
Wer mit der Wahrheit, mit dieser nackten Schönheit, dieser lockenden
Sirene, dieser Braut ohne Aussteuer buhlt, der muss dem Glück entsagen,
ein Staats- und Kathederphilosoph zu sein. Er wird, wenn
er es hoch bringt, ein Dachkammerphilosoph. Allein dagegen wird er,
statt eines Publikums von erwerbslustigen Brotstudenten, eines haben,
das aus den seltenen, auserlesenen, denkenden Wesen besteht. Und aus
der Ferne winkt eine dankbare Nachwelt. (N. 146.)