Naiv. Naivität.
1) Naivität der Natur.
Die Natur kann nimmer lügen und ist naiv, wie das Genie. Aber man versteht die Sprache der Natur nicht, weil sie zu einfach ist. (N. 58. W. I, 325. 332. 387. 449; II, 653. P. II, 101. 308.)
Das Tier ist um eben so viel naiver, als der Mensch, wie die
Pflanze naiver ist, als das Tier. Im Tiere sehen wir den Willen
zum Leben gleichsam nackter, als im Menschen, wo er mit vieler Erkenntnis
überkleidet und zudem durch die Fähigkeit der Verstellung
verhüllt ist. Ganz nackt zeigt er sich in der Pflanze. (W. I, 186.
P. II, 618. H. 451.)
2) Naivität in den redenden Künsten.
Die Wahrheit ist nackt am schönsten, und der Eindruck, den sie macht, um so tiefer, als ihr Ausdruck einfacher war; teils, weil sie dann das ganze, durch keinen Nebengedanken zerstreute Gemüt des Hörers ungehindert einnimmt; teils, weil er fühlt, dass er hier nicht durch rhetorische Künste bestochen, oder getäuscht ist, sondern die ganze Wirkung von der Sache selbst ausgeht. Daher steht die naive Poesie Göthes so unvergänglich höher, als die rhetorische Schillers. Daher auch die starke Wirkung mancher Volkslieder. Deshalb hat man, wie in der Baukunst vor der Überladung mit Zierraten, in den redenden Künsten sich vor allem Überflüssigen im Ausdruck zu hüten. Das Gesetz der Einfachheit und Naivität, da diese sich auch mit dem Erhabensten verträgt, gilt für alle schönen Künste. (P. II, 559.)
Das Naive zieht an, die Unnatur hingegen schreckt überall zurück.
(P. II, 553.)
3) Gegensatz des Genies gegen die gewöhnlichen Köpfe in Hinsicht auf die Naivität.
Alle Formen nimmt die Geistlosigkeit an, um sich dahinter zu verstecken; sie verhüllt sich in Schwulst, in Bombast, in den Ton der Überlegenheit und Vornehmheit; nur an die Naivität macht sie sich nicht, weil sie hier sogleich bloß stehen und bloße Einfältigkeit zu Markte bringen würde. Selbst der gute Kopf darf noch nicht naiv sein; da er trocken und mager erscheinen würde. Daher bleibt die Naivität das Ehrenkleid des Genies, wie Nacktheit das der Schönheit. (P. II, 583.)
An dem Naiven der Aussagen der Genies erkennt man, dass sie
stets in Gegenwart der Anschauung gedacht und den Blick unverwandt
auf sie geheftet haben. Den gewöhnlichen Schriftstellern dagegen
stehen nur banale Redensarten und abgenutzte Bilder zu Gebote
und nie dürfen sie sich erlauben, naiv zu sein, bei Strafe, ihre Gemeinheit
in ihrer traurigen Blöße zu zeigen; statt dessen sind sie
preziös. (W. II, 78. Vergl. auch unter Genie: Kindlicher Charakter
des Genies.)
Jeder Mediokre sucht seinen ihm eigenen und natürlichen Stil zu
maskieren. Dies nötigt ihn zunächst, auf alle Naivität zu verzichten,
wodurch diese das Vorrecht der überlegenen und sich selbst fühlenden,
daher mit Sicherheit auftretenden Geister bleibt. (P. II, 551.)