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Schopenhauers Kosmos

 

 Moral.

1) Gegenstand der Moral.

In der Moral ist der Wille, die Gesinnung, der Gegenstand der Betrachtung und das allein Reale. Dadurch unterscheidet sie sich vom Staat, den Wille und Gesinnung, bloß als solche, ganz und gar nicht kümmern, sondern allein die Tat. (W. I, 406.)
Es kommt der Ethik bloß auf Das an, was gewollt wird, nicht auf Das was geschieht; mit dem Erfolg der Tat mögen nachher Zufall und Irrtum spielen, in deren Reich die bloße Begebenheit als solche liegt, — das ändert nichts am ethischen Wert der Tat. Für die Ethik hat die Außenwelt und ihre Begebenheiten bloß insofern Realität, als sie Zeichen des Willens sind, der durch sie bestimmt wurde; außerdem sind sie ihr nichtig. (H. 389.)
Aus dem erneuerten Spinozismus unserer Tage ist die hegelisch- pantheistische, auf dem plattesten Realismus beruhende Ansicht entstanden, die Ethik solle nicht das Tun der Einzelnen, sondern das der Volksmassen zum Stoffe haben. Nichts kann verkehrter sein, als diese Ansicht. Denn in jedem Einzelnen erscheint der ganze ungeteilte Wille zum Leben, das Wesen an sich, und der Mikrokosmos ist dem Makrokosmos gleich. Die Massen haben nicht mehr Inhalt, als jeder Einzelne. Nicht vom Tun und Erfolg, sondern vom Wollen handelt es sich in der Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im Individuum vor. Nicht das Schicksal der Völker, welches nur in der Erscheinung da ist, sondern das des Einzelnen entscheidet sich moralisch. Die Völker sind eigentlich bloße Abstraktionen, die Individuen allein existieren wirklich. (W. II, 675 fg.)

2) Aufgabe der Moral.

Der Zweck der Moral als Wissenschaft ist nicht anzugeben, wie die Menschen handeln sollen. (S. unten Kritik der imperativen Form der Moral.) Vielmehr hat sie es mit dem wirklichen Handeln der Menschen zu tun und hat den Zweck, die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären, und auf ihren letzten Grund zurückzuführen. Daher bleibt zur Auffindung des Fundaments der Moral kein anderer Weg, als der empirische, nämlich zu untersuchen, ob es überhaupt Handlungen gibt, denen wir echten moralischen Wert zuerkennen müssen, — welches die Handlungen freiwilliger Gerechtigkeit, reiner Menschenliebe und wirklichen Edelmuts sein werden. Diese sind sodann als ein gegebenes Phänomen zu betrachten, welches wir richtig zu erklären, d. h. auf seine wahren Gründe zurückzuführen, mithin die jedenfalls eigentümliche Triebfeder nachzuweisen haben, welche den Menschen zu Handlungen dieser, von jeder anderen spezifisch verschiedenen Art bewegt. Diese· Triebfeder, nebst der Empfänglichkeit für sie, wird der letzte Grund der Moralität und die Kenntnis derselben das Fundament der Moral sein. Hingegen eine Konstruktion a priori, eine absolute Gesetzgebung für alle vernünftige Wesen in abstrakto enthaltend, zu liefern, kann nicht Aufgabe der Ethik sein. (E. 195.) Die Moral hat es mit dem wirklichen Handeln des Menschen und nicht mit apriorischem Kartenhäuserbau zu tun, an dessen Ergebnisse sich im Ernst und Drange des Lebens kein Mensch kehren würde, deren Wirkung daher, dem Sturm der Leidenschaften gegenüber, so viel sein würde, wie die einer Klistierspritze bei einer Feuersbrunst. (E. 143.)

3) Wichtigkeit der moralischen Untersuchungen.

Dass moralische Untersuchungen ungleich wichtiger sind, als physikalische, und überhaupt als alle andern, folgt daraus, dass sie fast unmittelbar das Ding an sich betreffen, nämlich diejenige Erscheinung desselben, an der es, vom Lichte der Erkenntnis unmittelbar getroffen, sein Wesen offenbart als Wille. Physikalische Wahrheiten hingegen bleiben ganz auf dem Gebiete der Vorstellung, d. i. der Erscheinung, und zeigen bloß, wie die niedrigsten Erscheinungen des Willens sich in der Vorstellung gesetzmäßig darstellen. — Ferner bleibt die Betrachtung der Welt von der physischen Seite in ihren Resultaten für uns trostlos; auf der moralischen Seite allein ist Trost zu finden. M. II, 674.) Physikalische Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben; aber die innere fehlt ihnen. Diese ist das Vorrecht der Intellektuellen und moralischen Wahrheiten, als welche die höchsten Stufen der Objektivation des Willens zum Thema haben; während jene die niedrigsten. (P. II, 215.)

4) Gegen die skeptische Ansicht von der Moral.

Nach der skeptischen Ansicht gibt es gar keine natürliche, von menschlicher Satzung unabhängige Moral, sondern diese ist durch und durch ein Artefakt, ein Mittel erfunden zur besseren Bändigung des eigensüchtigen und boshaften Menschengeschlechts. Nun wäre es allerdings ein großer Irrtum, wenn man glaubte, dass alle gerechte und legale Handlungen der Menschen rein moralischen Ursprungs wären. Die allermeiste Ehrlichkeit im menschlichen Verkehr lässt sich vielmehr auf egoistische Motive zurückführen. Wir haben also nicht sogleich in heiligem Eifer aufzufahren, wenn ein Moralist einmal das Problem aufwirft, ob nicht vielleicht alle Redlichkeit und Gerechtigkeit im Grunde bloß konventionell wäre, und er demnächst, dieses Prinzip weiter verfolgend, auch die ganze übrige Moral auf entferntere, mittelbare, zuletzt aber doch egoistische Gründe zurückzuführen sich bemüht, wie Holbach, Helvetius, d'Alembert und Andere ihrer Zeit es versucht haben. Von dem größten Teil der gerechten Handlungen ist dies sogar wirklich wahr. Dass es auch von einem beträchtlichen Teil der Handlungen der Menschenliebe wahr sei, leidet keinen Zweifel, da sie oft aus Ostentation, sehr oft aus dem Glauben an eine dereinstige Retribution oder aus sonstigen egoistischen Gründen hervorgehen. Allein eben so gewiss ist es, dass es Handlungen ganz uneigennütziger Menschenliebe und ganz freiwilliger Gerechtigkeit gibt, wenngleich sie zu den seltenen Ausnahmen gehören. Die sämtlichen skeptischen Bedenklichkeiten sind also zwar geeignet, unsere Erwartungen von der moralischen Anlage im Menschen und mithin vom natürlichen Fundament der Ethik zu mäßigen, reichen aber keineswegs hin, das Dasein aller echten Moralität abzuleugnen. (E. 186—195.)

5) Unterschied zwischen Prinzip und Fundament der Moral.

Prinzip und Fundament der Ethik sind zwei ganz verschiedene Dinge, obwohl sie meistens und bisweilen wohl absichtlich vermischt werden.
Das Prinzip oder der oberste Grundsatz einer Ethik ist der kürzeste und bündigste Ausdruck für die Handlungsweise, die sie vorschreibt, oder, wenn sie keine imperative Form hat, die Handlungsweise, welcher sie eigentlichen moralischen Wert zuerkennt. Es ist mithin ihre, durch einen Satz ausgedrückte Anweisung zur Tugend überhaupt, das ο,τι der Tugend. — Das Fundament einer Ethik hingegen ist das διοτι der Tugend, der Grund jener Verpflichtung oder Anempfehlung oder Belobung, er mag nun in der Natur des Menschen, oder in äußeren Weltverhältnissen, oder worin sonst gesucht werden. Das ο,τι ist leicht, das διοτι hingegen sehr schwer anzugeben. Über den Inhalt des ο,τι, des Prinzips oder Grundsatzes sind eigentlich alle Ethiker einig, in so verschiedene Formen sie ihn auch kleiden. Da gegen wird das eigentliche Fundament der Ethik, wie der Stein der Weisen, seit Jahrtausenden gesucht. (E. 136 fg.)

6) Formel des Moralprinzips.

Der einfachste und reinste Ausdruck, auf den sich das Prinzip, der Grundsatz der Moral zurückführen lässt, ist: Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva (Schade Niemandem, vielmehr hilf allen, soweit Du kannst). Dies ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen, das Datum, zu welchem das Quaesitum das Problem jeder Ethik ist, die Folge, zu der man den Grund verlangt. Jedes andere Moralprinzip ist als eine Umschreibung, ein indirekter oder verblümter Ausdruck jenes einfachen Satzes anzusehen. (E. 137 fg.)

7) Kritik der imperativen Form der Moral.

Die imperative Form der Moral oder die Moral in Form des Gesetzes, Gebotes, Sollens, hat ihren Ursprung in der theologischen Moral. In den christlichen Jahrhunderten hat die philosophische Ethik ihre Form unbewusst von der theologischen genommen. Da nun diese wesentlich eine gebietende ist; so ist auch die philosophische in Form von Vorschrift und Pflichtenlehre aufgetreten, vermeinend, dies sei ihre eigene und natürliche Gestalt. So unleugbar nun aber auch die metaphysische, d. h. über dieses erscheinende Dasein hinaus sich erstreckende und die Ewigkeit berührende ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns ist; so wenig ist es dieser wesentlich, in der Form des Gebietens und Gehorchens, des Gesetzes und der Pflicht aufgefasst zu werden. Die Fassung der Ethik in einer imperativen Form, als Pflichtenlehre, und das Denken des moralischen Wertes oder Unwertes menschlicher Handlungen als Erfüllung oder Verletzung von Pflichten, stammt, mit samt dem Sollen, unleugbar nur aus der theologischen Moral und demnächst aus dem Dekalog. Demgemäß beruht sie wesentlich auf der Voraussetzung der Abhängigkeit des Menschen von einem andern, ihm gebietenden und Belohnung oder Strafe verkündigenden Willen und ist davon nicht zu trennen. So ausgemacht die Voraussetzung eines solchen in der Theologie ist; so wenig darf sie stillschweigend und ohne Weiteres in die philosophische Moral gezogen werden. Dann darf man aber auch nicht vorweg annehmen, dass in dieser die imperative Form, das Aufstellen von Geboten, Gesetzen und Pflichten, sich von selbst verstehe und ihr wesentlich sei; wobei es ein schlechter Notbehelf ist, die solchen Begriffen ihrer Natur nach wesentlich anhängende äußere Bedingung durch das Wort absolut oder kategorisch zu ersetzen, als wodurch eine contradictio in adjecto entsteht. (E. 120—126. W. I, 620.)

8) Bedürfnis der metaphysischen Grundlage für die Moral.

Wie am Ende jeder Forschung und jeder Realwissenschaft; so steht auch in der Moral der menschliche Geist vor einem Urphänomen, welches zwar alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erklärt, selbst aber unerklärt bleibt und als ein Rätsel vorliegt. Auch hier also stellt sich die Forderung einer Metaphysik ein, d. h. einer letzten Erklärung der Urphänomene. Diese Forderung erhebt auch hier die Frage, warum das Vorhandene und Verstandene sich so und nicht anders verhalte, und wie aus dem Wesen an sich der Dinge der dargelegte Charakter der Erscheinung hervorgehe. Ja, bei der Moral ist das Bedürfnis einer metaphysischen Grundlage um so dringender, als die philosophischen, wie die religiösen Systeme darüber einig sind, dass die ethische Bedeutsamkeit der Handlungen zugleich eine metaphysische, d. h. über die bloße Erscheinung der Dinge und somit auch über alle Möglichkeit der Erfahrung hinausreichende, demnach mit dem ganzen Dasein der Welt und dem Lose des Menschen in engster Beziehung stehende sein müsse. (E. 260—263. 109.)

9) Kritik der populären Begründung der Moral durch die Theologie.

Dem Volke wird die Moral durch die Theologie begründet, als ausgesprochener Wille Gottes. Gewiss lässt sich keine wirksamere Begründung der Moral denken, als die theologische; denn wer würde so vermessen sein, sich dem Willen des Allmächtigen und Allwissenden zu widersetzen? Gewiss Niemand; wenn nur derselbe auf eine ganz authentische, unbezweifelbare, so zu sagen offizielle Weise verkündigt wäre. Aber diese Bedingung ist es, die sich nicht erfüllen lässt. Hierzu kommt noch die Erkenntnis, dass ein bloß durch angedrohte Strafe und verheißene Belohnung bewirktes moralisches Handeln im Grunde auf Egoismus beruht, also kein moralisches wäre. Vollends aber seit Kants zerstörender Kritik der spekulativen Theologie ist weniger als je an eine Begründung der Ethik durch Theologie zu denken. (E. 111 fg.)
Soll nun aber einmal die Moral durch ein mythisches Dogma gestützt werden, wie hoch steht da das der Metempsychose über jedem anderen! (H. 428. — Vergl. Metempsychose.)

10) Unvereinbarkeit der Moral mit dem Theismus, Pantheismus und Naturalismus.

(S. unter Gott: Gegenbeweise gegen das Dasein Gottes; ferner s. Pantheismus und Naturalismus.)

11) Die Moral der Alten.

(S. d. Alten.)

12) Die Moral des Christentums.

(S. Christentum.)
(Über die zur Moral gehörigen Begriffe: Tugend, Pflicht, Gut, Freiheit, Gewissen siehe diese Artikel.)