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Schopenhauers Kosmos

 

 Pflicht.

1) Definition der Pflicht.

Es gibt Handlungen, deren bloße Unterlassung ein Unrecht ist; solche Handlungen heißen Pflichten. Dieses ist die wahre philosophische Definition des Begriffs der Pflicht, welcher hingegen alle Eigentümlichkeit einbüßt und dadurch verloren geht, wenn man, wie in der bisherigen Moral, jede lobenswerte Handlungsweise Pflicht nennen will, wobei man vergisst, dass was Pflicht ist, auch Schuldigkeit sein muss. Pflicht, το δεον, le devoir, duty, ist also eine Handlung, durch deren bloße Unterlassung man einen Anderen verletzt, d. h. Unrecht begeht. (E. 220.)

2) Worauf alle Pflichten beruhen.

Die bloße Unterlassung einer Handlung kann nur dadurch Verletzung eines Andern, d. h. Unrecht sein, dass der Unterlasser sich zu einer solchen Handlung anheischig gemacht, d. h. verpflichtet hat. Demnach beruhen alle Pflichten auf eingegangener Verpflichtung. Diese ist in der Regel eine ausdrückliche, gegenseitige Übereinkunft, wie z. B. zwischen Fürst und Volk, Regierung und Beamten, Herrn und Diener, Advokat und Klienten, Arzt und Kranken, überhaupt zwischen Jedem, der eine Leistung irgend einer Art übernommen hat, und seinen Besteller, im weitesten Sinne des Worts. Darum gibt jede Pflicht ein Recht; weil keiner sich ohne ein Motiv, d. h. ohne irgend einen Vorteil für sich, verpflichten kann. Nur eine Verpflichtung lässt sich anführen, die nicht mittelst einer Übereinkunft, sondern unmittelbar durch eine bloße Handlung übernommen wird, weil Der, gegen den man sie hat, noch nicht da war, als man sie übernahm; es ist der der Eltern gegen ihre Kinder. (Vergl. Eltern.) Allenfalls könnte man als unmittelbar durch eine Handlung entstehende Verpflichtung den Ersatz für angerichteten Schaden geltend machen. Jedoch ist dieser, als Aufhebung der Folgen einer ungerechten Handlung, eine bloße Bemühung sie auszulöschen, etwas rein Negatives, das darauf beruht, dass die Handlung selbst hätte unterbleiben sollen. (E. 220 fg. 124.)
(Warum Dankbarkeit nicht Pflicht zu nennen ist, s. Dankbarkeit.)

3) Verwandtschaft und Unterschied zwischen Pflicht und Sollen.

Die Begriffe Pflicht und Sollen sind wesentlich relativ. Absolutes Sollen und unbedingte Pflicht sind daher eine contradictio in adjecto. Wie alles Sollen schlechterdings an eine Bedingung gebunden ist, so auch alle Pflicht. Denn beide Begriffe sind sich sehr nahe verwandt und beinahe identisch. Der einzige Unterschied zwischen ihnen möchte sein, dass Sollen überhaupt auch auf bloßem Zwang beruhen kann, Pflicht hingegen Verpflichtung, d. h. Übernahme der Pflicht voraussetzt. Eben weil Keiner eine Pflicht unentgeltlich übernimmt, gibt jede Pflicht ein Recht. Der Sklave hat keine Pflicht, weil er kein Recht hat; aber es gibt ein Soll für ihn, welches auf bloßem Zwang beruht. (E. 123 fg.)

4) Kritik des Gegensatzes zwischen Rechts- und Tugendpflichten.

Es gibt in dem ethischen Urphänomen, dem Mitleid, zwei deutlich getrennte Grade, in welchen das Leiden eines Anderen unmittelbar mein Motiv werden, d. h. mich zum Tun oder Lassen bestimmen kann; nämlich zuerst nur in dem Grade, dass es egoistischen oder boshaften Motiven entgegenwirkend, mich abhält, dem Anderen ein Leiden zu verursachen; sodann aber in dem höheren Grade, wo das Mitleid, positiv wirkend, mich zu tätiger Hilfe antreibt. Die Trennung zwischen sogenannten Rechts- und Tugend-Pflichten, richtiger zwischen Gerechtigkeit und Menschenliebe, ergibt sich hier von selbst; es ist die natürliche, unverkennbare und scharfe Grenze zwischen dem Negativen und Positiven, zwischen Nichtverletzen und Helfen. Die bisherige Benennung Rechts- und Tugendpflichten, letztere auch Liebespflichten, unvollkommene Pflichten genannt, hat zuvörderst den Fehler, dass sie das Genus der Spezies koordiniert; denn die Gerechtigkeit ist auch eine Tugend. Sodann liegt derselben die viel zu weite Ausdehnung des Begriffes Pflicht zum Grunde. (Vergl. Definition der Pflicht.) Die Stelle der Rechts- und Tugendpflichten nehmen daher (in der Schopenhauerschen Ethik) zwei Tugenden ein, die der Gerechtigkeit und die der Menschenliebe. (E. 212.)

5) Kritik der Pflichten gegen uns selbst.

Pflichten gegen uns selbst müssen, wie alle Pflichten, entweder Rechts- oder Liebespflichten sein. Rechtspflichten gegen uns selbst sind unmöglich, wegen des volenti non fit injuria; da nämlich Das, was ich tue, alle Mal Das ist, was ich will, so geschieht mir von mir selbst auch stets nur was ich will, folglich nie Unrecht. Was aber die Liebespflichten gegen uns selbst betrifft, so findet hier die Moral ihre Arbeit bereits getan und kommt zu spät, da Jeder schon von selbst sich liebt und was Jeder schon von selbst tut, nicht unter den Begriff der Pflicht gehört. Was man gewöhnlich als Pflichten gegen uns selbst aufstellt, ist zuvörderst ein seichtes Räsonnement gegen den Selbstmord. Doch die wirklich echten moralischen Motive gegen den Selbstmord gehören einer höheren, über die gewöhnliche Ethik hinausgehenden Betrachtungsweise an (vergl. Selbstmord). Was nun noch außerdem unter der Rubrik von Selbstpflichten vorgetragen zu werden pflegt, sind teils Klugheitsregeln, teils diätetische Vorschriften, welche alle beide nicht in die Moral gehören. (E. 126—128.)