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Schopenhauers Kosmos

 

 Selbstmord.

1) Der Selbstmord als ein Vorrecht des Menschen vor dem Tiere.

Dem Menschen allein, der nicht, wie das Tier, bloß den körperlichen, auf die Gegenwart beschränkten, sondern auch den ungleich größeren, von Zukunft und Vergangenheit borgenden geistigen Leiden Preis gegeben ist, hat die Natur als Kompensation das Vorrecht verliehen, sein Leben, auch ehe sie selbst ihm ein Ziel setzt, beliebig enden zu können und demnach nicht, wie das Tier, notwendig so lange er kann, sondern auch nur so lange er will zu leben. (E. 127.)

2) Empfänglichkeit und Anlass zum Selbstmord.

Das Ausharren und Treiben im Leben ist nicht etwas irgend frei Erwähltes, durch ein objektives Urteil über den Wert des Lebens Motiviertes, sondern es ist der blinde Wille, auftretend als Lebenstrieb, Lebenslust, Lebensmut, was das Puppenspiel der Menschenwelt in Bewegung setzt und erhält.
Das Schwachwerden dieser Lebenslust zeigt sich als Hypochondrie, spleen, Melancholie, ihr gänzliches Versiegen als Hang zum Selbstmord, der alsdann bei dem geringfügigsten, ja, einem bloß eingebildeten Anlass eintritt, indem jetzt der Mensch gleichsam Händel mit sich selbst sucht, um sich tot zu schießen; sogar wird zur Not ohne allen besonderen Anlass zum Selbstmord gegriffen. (W. II, 409.)
Wenn eine krankhafte Affektion des Nervensystems, oder der Verdauungswerkzeuge, der angeborenen Dyskolie in die Hände arbeitet; dann kann diese den hohen Grad erreichen, wo dauerndes Missbehagen Lebensüberdruss erzeugt und demnach Hang zum Selbstmord entsteht. Diesen vermögen alsdann selbst die geringsten Unannehmlichkeiten zu veranlassen; ja, bei den höchsten Graden des Übels bedarf es derselben nicht ein Mal, sondern bloß das anhaltende Missbehagen führt zum Selbstmord. (P. I, 346.)
Allerdings kann nach Umständen auch der gesundeste und vielleicht selbst der heiterste Mensch sich zum Selbstmord entschließen, wenn nämlich die Größe der Leiden oder des unausweichbar herannahenden Unglücks die Schrecken des Todes überwältigt. Der Unterschied liegt allein in der verschiedenen Größe des dazu erforderlichen Anlasses, als welche mit der Dyskolie in umgekehrtem Verhältnis steht. Je größer diese ist, desto geringer kann jener sein, ja am Ende auf Null herabsinken; je größer hingegen die Eukolie und die sie unterstützende Gesundheit, desto mehr muss im Anlass liegen. Danach gibt es unzählige Abstufungen der Fälle zwischen den beiden Extremen des Selbstmords, nämlich dem des rein aus krankhafter Steigerung der angeborenen Dyskolie entspringenden und dem des Gesunden und Heiteren ganz aus objektiven Gründen. (P. I, 346. H. 449 fg.)
Die Erblichkeit der Anlage zum Selbstmord beweist, dass der subjektive Teil der Bestimmung dazu wohl der stärkere ist. (H. 450.)
Dass im Gefühl des Leidens oder Wohlseins ein sehr großer Teil subjektiv und a priori bestimmt ist, dafür kann auch Dies als Beleg angeführt werden, dass die Motive, auf welche der Selbstmord erfolgt, so höchst verschieden sind; indem wir kein Unglück angeben können, das groß genug wäre, um ihn nur mit vieler Wahrscheinlichkeit bei jedem Charakter herbeizuführen, und wenige, die so klein wären, dass nicht ihnen gleichwiegende ihn schon veranlasst hätten. (W. I, 373.)
Im Ganzen wird man finden, dass, sobald es dahin gekommen ist, dass die Schrecknisse des Lebens die des Todes überwinden, der Mensch seinem Leben ein Ende macht. Der Widerstand der letzteren ist jedoch bedeutend; sie stehen gleichsam als Wächter an der Ausgangspforte. Inzwischen ist der Kampf mit diesen Wächtern in der Regel nicht so schwer, wie es uns von Weitem scheinen mag, und zwar in Folge des Antagonismus zwischen geistigen und körperlichen Leiden. Starke geistige Leiden machen uns gegen körperliche unempfindlich. Dies ist es, was den Selbstmord erleichtert. Besonders sichtbar wird Dies an Denen, welche durch rein krankhafte tiefe Missstimmung zum Selbstmord getrieben werden. Diesen kostet er gar keine Selbstüberwindung. (P. II, 332 fg. H. 450.)

3) Worauf sich die Bewunderung des Selbstmordes gründet.

Das Lebenwollen, die Anhänglichkeit am Leben, ist keine Folge der Überlegung und keine Sache der Wahl, sondern das prius des Intellekts. Wir selbst sind der Wille zum Leben, und daraus erklärt sich die allem Lebenden innewohnende Todesfurcht. Auf diesen unaussprechlichen horror mortis gründet sich auch der Lieblingssatz aller gewöhnlichen Köpfe, dass wer sich das Leben nimmt, verrückt sein müsse, nicht weniger jedoch das mit einer gewissen Bewunderung verknüpfte Erstaunen, welches diese Handlung selbst in denkenden Köpfen jedes Mal hervorruft, weil dieselbe der Natur alles Lebenden so sehr entgegenläuft, dass wir Den, welcher sie zu vollbringen vermochte, in gewissem Sinne bewundern müssen. (W. II, 271.)

4) Falschheit der Behauptung, dass der Selbstmord eine feige Handlung sei.

Es gibt gewisse allgemein beliebte und fest akkreditierte, täglich von Unzähligen mit Selbstgenügen nachgesprochene Irrtümer. Zu diesen gehört auch der Satz: Selbstmord ist eine feige Handlung. (P. II, 64. 328.)

5) Der Eifer der Geistlichkeit gegen den Selbstmord.

Die Gründe gegen den Selbstmord, welche von den Geistlichen der monotheistischen, d. i. jüdischen Religionen und den ihnen sich anbequemenden Philosophen aufgestellt worden, sind schwache, leicht zu widerlegende Sophismen. (P. II, 328—331. Über die gegen den Selbstmord geltend gemachte Pflicht der Selbsterhaltung s. Selbsterhaltung.)
Der außerordentlich lebhafte und doch weder durch die Bibel, noch durch triftige Gründe unterstützte Eifer der Geistlichkeit monotheistischer Religionen gegen den Selbstmord scheint auf einem verhehlten Grunde zu beruhen. Sollte es nicht dieser sein, dass das freiwillige Aufgeben des Lebens ein schlechtes Kompliment ist für Den, welcher gesagt hat: παντα καλα λιαν? — So wäre es denn abermals der obligate Optimismus dieser Religionen, welcher die Selbsttötung anklagt, um nicht von ihr eingeklagt zu werden. (P. II, 332.)

6) Das Recht zum Selbstmord.

Da ein Recht zu etwas, oder auf etwas haben, nichts weiter heißt, als es tun, oder aber nehmen, oder benutzen können, ohne dadurch irgend einen Anderen zu verletzen; so erhellt die Sinnlosigkeit der Frage, ob wir das Recht haben, uns das Leben zu nehmen. Was aber die Ansprüche, die etwa Andere auf uns persönlich haben können, betrifft, so stehen sie unter der Bedingung, dass wir leben, fallen also mit dieser weg. Dass Der, welcher für sich selbst nicht mehr leben mag, nun noch als bloße Maschine zum Nutzen Anderer fortleben solle, ist eine überspannte Forderung. (P. II, 257.)
Offenbar hat doch Jeder auf Nichts in der Welt ein so unbestreitbares Recht, wie auf seine eigene Person und Leben. (P. II, 328.)
Wenn die Kriminaljustiz den Selbstmord verpönt, so ist Dies entschieden lächerlich; denn welche Strafe kann Den abschrecken, der den Tod sucht? — Bestraft man den Versuch zum Selbstmord, so ist es die Ungeschicklichkeit, durch welche er misslang, die man bestraft. (P. II, 329.)

7) Vergeblichkeit des Selbstmords.

Von dem Willen zum Leben ist das Leben unzertrennlich und dessen Form allein das Jetzt. Anfang und Ende trifft nur das Individuum, mittelst der Zeit, der Form dieser Erscheinung für die Vorstellung. Außer der Zeit liegt allein der Wille, Kant's Ding an sich, und dessen adäquate Objektität, Platon’s Idee. Daher gibt Selbstmord keine Rettung; was Jeder im Innersten will, das muss er sein, und was Jeder ist, das will er eben. (W. I, 433.) Weil dem Willen zum Leben das Leben immer gewiss und diesem das Leiden wesentlich ist, so ist der Selbstmord, die willkürliche Zerstörung einer einzelnen Erscheinung, bei der das Ding an sich ungestört stehen bleibt, wie der Regenbogen feststeht, so schnell auch die Tropfen, welche auf Augenblicke seine Träger sind, wechseln, eine ganz vergebliche und törichte Handlung. Aber er ist auch überdies das Meisterstück der Maja, als der schreiendste Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst. (W. I, 472—474.)

8) Der allein triftige moralische Grund gegen den Selbstmord.

Wenn es echte moralische Motive gegen den Selbstmord gibt, so liegen diese jedenfalls sehr tief und sind nicht mit dem Senkblei der gewöhnlichen Ethik zu erreichen. (E. 128. P. II, 332.)
Der allein triftige moralische Grund gegen den Selbstmord liegt darin, dass der Selbstmord der Erreichung des höchsten moralischen Zieles (der Verneinung des Willens zum Leben) entgegensteht, indem er der wirklichen Erlösung aus dieser Welt des Jammers eine bloß scheinbare unterschiebt. (P. II, 331.) Von der Verneinung des Willens zum Leben unterscheidet nichts sich mehr, als die Aufhebung seiner einzelnen Erscheinung, der Selbstmord. Weit entfernt, Verneinung des Willens zu sein, ist dieser ein Phänomen starker Bejahung des Willens. Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. (W. I, 471—473.) Wie das einzelne Ding zur Idee, so verhält sich der Selbstmord zur Verneinung des Willens; der Selbstmörder verneint bloß das Individuum, nicht die Spezies. (W. I, 472.) Der Selbstmörder gleicht einem Kranken, der eine schmerzhafte Operation, die ihn von Grund aus heilen könnte, nachdem sie angefangen, nicht vollenden lässt, sondern lieber die Krankheit behält; er weist das Leiden, statt es zum Quietiv des Willens werden zu lassen, von sich, indem er die Erscheinung des Willens, den Leib, zerstört, damit der Wille ungebrochen bleibe. Dies ist der Grund, warum beinahe alle Ethiken, sowohl philosophische, als religiöse, den Selbstmord verdammen, obgleich sie selbst hierzu keine andern, als seltsame, sophistische Gründe angeben können. (W. I, 473.)
Der wahre Grund gegen den Selbstmord, aus welchem auch das Christentum denselben verwirft (vergl. Christentum), ist ein asketischer, gilt also nur von einem viel höheren ethischen Standpunkte aus, als der, den europäische Moralphilosophen jemals eingenommen haben. Steigen wir aber von jenem sehr hohen Standpunkte herab; so gibt es keinen haltbaren moralischen Grund mehr, den Selbstmord zu verdammen. (P. II, 332.)

9) Der freiwillige Hungertod als eine von dem gewöhnlichen Selbstmorde zu unterscheidende Handlung.

Von dem gewöhnlichen Selbstmorde gänzlich verschieden scheint eine besondere Art desselben zu sein, der aus dem höchsten Grade der Askese freiwillig gewählte Hungertod. Es scheint, dass die gänzliche Verneinung des Willens den Grad erreichen könne, wo selbst der zur Erhaltung der Vegetation des Leibes durch Aufnahme von Nahrung nötige Wille wegfällt. Weit entfernt, dass diese Art des Selbstmordes aus dem Willen zum Leben entstünde, hört ein solcher völlig resignierter Asket bloß darum auf zu leben, weil er ganz und gar aufgehört hat zu wollen. (W. I, 474—476.)