Christentum.
1) Heterogene Bestandteile des Christentums.
Das Christentum ist aus zwei sehr heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt, aus der mit dem Hinduismus verwandten ethischen Lebensansicht und der damit verbundenen Jüdischen Glaubenslehre, durch welche letztere, als durch ein fremdartiges Element beschränkt, jene ethische Ansicht nicht zu entschiedenem Ausdruck gelangen konnte. Der rein ethische Bestandteil ist als der vorzugsweise, ja ausschließlich christliche von dem widernatürlich mit ihm verbundenen Jüdischen Dogmatismus zu unterscheiden. (W. I, 458.)
Im Christentum hat die Lehre von der Erlösung der Menschheit
und der Welt, welche offenbar indischen Ursprungs ist und daher auch
die indische Lehre voraussetzt, nach welcher der Ursprung der Welt
(dieses Sansara der Buddhisten) selbst schon vom Übel ist, — gepfropft
werden müssen auf den Jüdischen Theismus, wo der Herr die
Welt nicht nur gemacht, sondern auch nachher sie vortrefflich gefunden
hat. Daher die Schwierigkeiten und Widersprüche der christlichen
Glaubenslehre (P. I, 67) und das seltsame, dem gemeinen Verstande
widerstrebende Ansehen der christlichen Mysterien. (W. II, 691 fg.)
(Vergleiche auch unter Bibel: Gegensatz des Alten und Neuen
Testaments.)
2) Zusammenhang des Christentums mit dem Brahmanismus und Buddhismus.
In Wahrheit ist nicht das Judentum mit seinem παντα καλα λιαν (siehe da, Alles war sehr gut, 1. Mos. 1, 31), sondern Brahmanismus und Buddhismus dem Geiste und der ethischen Tendenz nach dem Christentum verwandt. Der Geist und die ethische Tendenz sind aber das Wesentliche einer Religion, nicht die Mythen, in welche sie solche kleidet. Die ethischen Lehren des Christentums deuten auf den Ursprung desselben aus jenen Urreligionen hin. Vermöge dieses Ursprungs (oder wenigstens dieser Übereinstimmung) gehört das Christentum dem alten wahren und erhabenen Glauben der Menschheit an, welcher im Gegensatz steht zu dem falschen, platten und verderblichen Optimismus, der sich im griechischen Heidentum, im Judentum und im Islam darstellt. (W. II, 713 fg.) Die Moral des Christentums zeigt, — abgerechnet von dem Mangel, dass sie die Tiere nicht berücksichtigt, — die größte Übereinstimmung mit der des Brahmanismus und Buddhismus und ist bloß weniger stark ausgedrückt und nicht bis zu den Extremen durchgeführt; daher man kaum zweifeln kann, dass sie, wie auch die Idee von einem Mensch gewordenen Gott (Avatar), aus Indien stammt und über Ägypten nach Judäa gekommen sein mag; so dass das Christentum ein Abglanz indischen Urlichtes von den Ruinen Ägyptens wäre, welcher aber leider auf Jüdischen Boden fiel. (E. 241.)3) Asketischer und pessimistischer Geist des Christentums.
Nicht allein die Religionen des Orients, sondern auch das wahre Christentum hat durchaus asketischen Grundcharakter. Haben doch sogar die in neuester Zeit aufgetretenen, offenen Feinde des Christentums ihm die Lehren der Entsagung, Selbstverleugnung, vollkommenen Keuschheit und überhaupt Mortifikation des Willens, welche sie ganz richtig mit dem Namen derantikosmischen Tendenzbezeichnen, als wesentlich eigen nachgewiesen. Hierin haben sie unleugbar Recht. Dass sie aber dieses als einen offenbaren Vorwurf gegen das Christentum geltend machen, während gerade hierin seine tiefe Wahrheit, sein hoher Wert und sein erhabener Charakter liegt, das zeugt von einer Verfinsterung des Geistes. (W. II, 705.)
Gleich dem Brahmanismus und Buddhismus, betrachtet auch das
echte Christentum Arbeit, Entbehrung, Not und Leiden, gekrönt durch
den Tod, als Zweck des Lebens. (Vergl. Bergpredigt unter Bibel.)
Im Neuen Testament ist die Welt dargestellt als ein Jammertal, das
Leben als ein Läuterungsprozess, und ein Marterinstrument ist das Symbol
des Christentums. Daher beruhte, als Leibniz, Shaftesbury,
Bolingbroke und Pope mit dem Optimismus hervortraten, der
Anstoß, den man allgemein daran nahm, hauptsächlich darauf, dass der
Optimismus mit dem Christentum unvereinbar sei. (W. II, 669.)
Das Christentum trägt in seinem Innersten die Wahrheit, dass das
Leiden (Kreuz) der eigentliche Zweck des Lebens ist; daher verwirft es
als diesem entgegenstehend, den Selbstmord, welchen hingegen das
Altertum, von einem niedrigeren Standpunkt aus, billigte, ja ehrte.
(P. II, 332.)
Man denke nur ja nicht etwa, dass die christliche Glaubenslehre dem
Optimismus günstig sei; da im Gegenteil in den Evangelien Welt
und Übel beinahe als synonyme Ausdrücke gebraucht werden. (W. I, 385.)
Zwischen dem Geiste des griechisch-römischen Heidentums und dem
des Christentums ist der eigentliche Gegensatz der der Bejahung und
Verneinung des Willens zum Leben, wonach an letzter Stelle das
Christentum Recht behält. (P. II, 335.)
Die Kraft, vermöge welcher das Christentum zunächst das Judentum
und dann das griechische und römische Heidentum überwinden
konnte, liegt ganz allein in seinem Pessimismus, in dem Eingeständnis,
dass unser Zustand ein höchst elender und zugleich sündlicher ist, während
Judentum und Heidentum optimistisch waren. Jene von Jedem tief
und schmerzlich gefühlte Wahrheit schlug durch und hatte das Bedürfnis
der Erlösung in ihrem Gefolge. (W. II, 188.)
4) Kern der christlichen Glaubenslehre.
Nicht die Individuen, sondern die Idee des Menschen in ihrer Einheit betrachtend, symbolisiert die christliche Glaubenslehre die Natur, d. i. die Bejahung des Willens zum Leben, im Adam, dessen auf uns vererbte Sünde, d. h. unsere Einheit mit ihm in der Idee, welche in der Zeit durch das Band der Zeugung sich darstellt, uns Alle des Leidens und des ewigen Todes teilhaftig macht; dagegen symbolisiert sie die Gnade, d. i. die Verneinung des Willens, die Erlösung, im menschgewordenen Gott; der, als frei von aller Sündhaftigkeit, d. h. von allem Lebenswillen, auch nicht, wie wir, aus der entschiedensten Bejahung des Willens (der geschlechtlichen Zeugung) hervorgegangen sein kann, noch, wie wir, einen Leib haben kann, der durch und durch nur konkreter Wille, Erscheinung des Willens ist; sondern von der reinen Jungfrau geboren, auch eigentlich nur einen Scheinleib hat. — Wirklich ist die Lehre von der Erbsünde (Bejahung des Willens) und von der Erlösung (Verneinung des Willens) die große Wahrheit, welche den Kern des Christentums ausmacht; während das Übrige meistens nur Einkleidung und Hülle, oder Beiwerk ist. (W. I, 388. 479 fg.; II, 719.)
Bei keiner Sache hat man so sehr den Kern von der Schale zu
unterscheiden, wie beim Christentum. (W. II, 715.)
Mit Recht lehrt das Christentum, dass alle äußeren Werke wertlos
sind, wenn sie nicht aus jener echten Gesinnung, welche in der wahren
Gernwilligkeit und reinen Liebe besteht, hervorgehen, und dass nicht die
verrichteten Werke (opera, operata), sondern der Glaube, die echte Gesinnung,
welche allein der heilige Geist verleiht, nicht aber der freie
und überlegte, das Gesetz allein vor Augen habende Wille gebiert, selig
mache und erlöse. (W. I, 624.) Dass aber, wie St. Paulus
(Röm. 3, 21 ff.), Augustinus und Luther lehren, die Werke nicht
rechtfertigen können, indem wir Alle wesentlich Sünder sind und bleiben,
— beruht zuletzt darauf, dass, weil operari sequitur esse, wenn
wir handelten, wie wir sollten, wir auch sein müssten, was wir sollten.
Dann aber bedürften wir keiner Erlösung aus unserm jetzigen Zustande,
d. h. wir brauchten nicht etwas ganz Anderes, ja, Dem was
wir sind Entgegengesetztes, zu werden. Weil wir aber sind was wir
nicht sein sollten, tun wir auch notwendig was wir nicht tun
sollten. Darum also bedürfen wir einer völligen Umgestaltung unseres
Sinnes und Wesens, d. i. der Wiedergeburt, als deren Folge die
Erlösung eintritt. (W. II, 691.)