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Schopenhauers Kosmos

 

 Alten.

1) Vorzüge der Alten.

Man kann den Geist der Alten dadurch charakterisieren, dass sie durchgängig und in allen Dingen bestrebt waren, so nahe als möglich der Natur zu bleiben, und dagegen den Geist der neuen Zeit durch das Bestreben, so weit als möglich sich von der Natur zu entfernen. Man betrachte die Kleidung, die Sitten, die Geräte, die Wohnungen, die Gefäße, die Kunst, die Religion, die Lebensweise der Alten und Neuen. (P. II, 438.)
Die Alten werden nie veralten. Sie sind und bleiben der Polarstern für alle unsere Bestrebungen, sei es in der Literatur oder in der bildenden Kunst, den wir nie aus den Augen verlieren dürfen. Schande wartet des Zeitalters, welches sich vermessen möchte, die Alten bei Seite zu setzen. (P. II, 436.)
Begünstigt durch den Einfluss des schönen gemäßigten Klimas und guten Bodens, wie auch der vielen Seeküsten Griechenlands und Kleinasiens erlangten die Hellenen eine ganz naturgemäße Entwickelung und rein menschliche Kultur, in einer Vollkommenheit, wie solche außerdem nie und nirgends vorgekommen ist. (P. II, 435.)
Dieser Nation ganz allein verdanken wir die richtige Auffassung und naturgemäße Darstellung der menschlichen Gestalt und Gebärde, die Auffindung der allein regelrechten und von ihnen auf immer festgestellten Verhältnisse der Baukunst, die Entwickelung aller echten Formen der Poesie nebst Erfindung der wirklich schönen Silbenmaße, die Aufstellung philosophischer Systeme, nach allen Grundrichtungen des menschlichen Denkens, die Elemente der Mathematik, die Grundlagen einer vernünftigen Gesetzgebung und überhaupt die normale Darstellung einer wahrhaft schönen und edlen menschlichen Existenz. (P. II, 435.)
Die Griechen, dieses kleine auserwählte Volk der Musen und Grazien, waren mit einem Instinkt der Schönheit ausgestattet. Dieser erstreckte sich auf Alles: auf Gesichter, Gestalten, Stellungen, Gewänder, Waffen, Gebäude, Gefäße, Geräte und was noch sonst war, und verließ sie nie und nirgends. (P. II, 435.)
Die Skulptur, obgleich hauptsächlich auf Darstellung der Schönheit (des Gattungscharakters) ausgehend, hat doch diese immer in etwas durch den individuellen Charakter zu modifizieren und die Idee der Menschheit immer auf eine bestimmte, individuelle Weise, eine besondere Seite derselben hervorhebend, auszudrücken, weil das menschliche Individuum als solches gewissermaßen die Dignität einer eigenen Idee hat und der Idee der Menschheit es eben wesentlich ist, dass sie sich in Individuen von eigentümlicher Bedeutsamkeit darstellt. Dieser Forderung entsprechend finden wir in den Werken der Alten die von ihnen deutlich aufgefasste Schönheit nicht durch eine einzige, sondern durch viele, verschiedenen Charakter tragende Gestalten ausgedrückt, gleichsam immer von einer anderen Seite gefasst und demzufolge anders dargestellt im Apoll, anders im Bacchus, anders im Herkules, anders im Antinous. (W. I, 266.)
Das Reizende ist in der Kunst, als den Beschauer aus der reinen Kontemplation herabziehend und seinen Willen aufregend, überall zu vermeiden. Demgemäß sind die Antiken, bei aller Schönheit und völliger Nacktheit der Gestalten, fast immer davon frei, weil der Künstler selbst mit rein objektivem, von der idealen Schönheit erfüllten Geiste sie schuf, nicht im Geiste subjektiver, schnöder Begierde. (W. I, 245 fg.)
Die Baukunst soll, wenngleich nicht die Formen der Natur, wie Baumstämme u. dgl. nachahmen, doch im Geiste der Natur schaffen, namentlich indem sie alles Überflüssige und Zwecklose vermeidet, ihre jedesmalige Absicht stets auf dem kürzesten und natürlichsten Wege erreicht und so dieselbe durch das Werk selbst offen darlegt. Dadurch erlangt sie eine gewisse Grazie, der analog, welche bei lebenden Wesen in der Leichtigkeit und der Angemessenheit jeder Bewegung und Stellung zur Absicht derselben besteht. Demgemäß sehen wir im guten antiken Baustil jeglichen Teil seinen Zweck auf die geradeste und einfachste Weise erreichen, ihn dabei unverhohlen und naiv an den Tag legend, eben wie die organische Natur es in ihren Werken auch tut. (W. II, 472.) Dasselbe gilt von den antiken Gefäßen, deren Schönheit daraus entspringt, dass sie auf so naive Art ausdrücken, was sie zu sein und zu leisten bestimmt sind, und ebenso von allem übrigen Geräte der Alten; man fühlt dabei, dass, wenn die Natur Vasen, Amphoren, Lampen, Tische, Stühle, Helme, Schilde, Panzer u. s. w. hervorbrächte, sie so aussehen würden. (P. II, 460.)
Nur der antike Baustil ist in rein objektivem Sinne gedacht, der gotische mehr in subjektivem. Jene durchgängig reine Rationalität, vermöge welcher Alles strenge Rechenschaft zulässt, ja, sie dem denkenden Beschauer schon von selbst entgegenbringt und welche zum Charakter des antiken Baustils gehört, ist hier nicht mehr zu finden. (W. II, 474.)
Die großen alten Historiker sind im Einzelnen, wo die Data sie verlassen, z. B. in den Reden ihrer Helden, Dichter; ja, ihre ganze Behandlungsart des Stoffes nähert sich dem Epischen. Dies aber eben gibt ihren Darstellungen Einheit und lässt sie die innere Wahrheit behalten, selbst da, wo die äußere ihnen nicht zugänglich oder gar verfälscht war. Wir finden Winkelmanns Ausspruch, dass das Porträt das Ideal des Individuums sein soll, auch von den alten Historikern befolgt, da sie das Einzelne doch so darstellen, dass die sich darin aussprechende Seite der Idee der Menschheit hervortritt; die neuen dagegen, Wenige ausgenommen, geben meistens nur ein Kehrichtfass und eine Rumpelkammer und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion. (W. I, 290.)
Die Alten standen in Bezug auf die für Fortschritte in der Metaphysik nötige Denkfreiheit im Vorteil gegen uns, da ihre Landesreligionen zwar die Mitteilung des Gedachten etwas beschränkten, aber die Freiheit des Denkens selbst nicht beeinträchtigten, weil sie nicht förmlich und feierlich den Kindern eingeprägt, wie auch überhaupt nicht so ernsthaft genommen wurden. Daher sind die Alten noch unsere Lehrer in der Metaphysik. (W. II, 208.)
In gesellschaftlicher Hinsicht sind es hauptsächlich zwei Dinge, welche den Zustand der neuen Zeit von dem des Altertums zum Nachteil des ersteren unterscheiden, indem sie demselben einen ernsten, sinistren Anstrich gegeben haben, von welchem frei das Altertum heiter und unbefangen, wie der Morgen des Lebens, dasteht. Sie sind: das ritterliche Ehrenprinzip und die venerische Krankheit, — par nobile fratrum! (P. I, 413.) Das ritterliche Ehrenprinzip mit seinem Duellwesen, diese ernsthafte Posse, welche die moderne Gesellschaft steif, ernst und ängstlich macht, war den Alten fremd und unbekannt, weil sie in allen Stücken der unbefangenen, natürlichen Ansicht der Dinge getreu blieben und daher solche sinistre und heillose Fratzen sich nicht einreden ließen. (P. I, 401. 414.)

2) Mängel der Alten.

In den mechanischen und technischen Künsten, wie auch in allen Zweigen der Naturwissenschaft, standen die Alten weit hinter uns zurück, weil diese Dinge eben mehr Zeit, Geduld, Methode und Erfahrung, als hohe Geisteskräfte erfordern. Daher ist aus den meisten naturwissenschaftlichen Werken der Alten für uns wenig mehr zu lernen, als was doch Alles sie nicht gewusst haben. (P. II, 436.)
In ethischer und religiöser Hinsicht standen die Alten noch weit zurück. In der alten Zeit war der Charakter des öffentlichen Lebens, des Staates und der Religion, wie des Privatlebens, entschiedene Bejahung des Willens zum Leben. (M. 350.) Die christliche Lehre von der Sünde und Erlösung war den Griechen und Römern, als welche noch gänzlich im Leben aufgingen und über dasselbe nicht ernstlich hinausblickten, völlig fremd. Die Alten, obwohl in fast allem Anderen weit vorgerückt, waren in der Hauptsache Kinder geblieben und wurden darin sogar von den Druiden übertroffen, die doch Metempsychose lehrten. Dass ein paar Philosophen, wie Pythagoras und Plato, anders dachten, ändert in Bezug auf das Ganze nichts. (W. II, 720.) Zwischen dem Geiste des griechisch-römischen Heidentums und dem des Christentums ist der eigentliche Gegensatz der der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, wonach an letzter Stelle das Christentum Recht behält. (P. II, 335.)
Die Ethik der Alten war Eudämonie, die der Neuen meistens Heilslehre. Unter den Alten macht Plato allein eine Ausnahme, dessen Ethik nicht eudämonistisch ist. Hingegen ist sogar die Ethik der Kyniker und Stoiker nur ein Eudämonismus besonderer Art. (E. 117.) Die Philosophen des Altertums haben zwar die Gerechtigkeit als Kardinaltugend anerkannt, aber die Menschenliebe (caritas, αλαπη) haben sie noch nicht als Tugend aufgestellt. Selbst der in der Moral sich am höchsten erhebende Plato gelangt doch nur bis zur freiwilligen, uneigennützigen Gerechtigkeit. Praktisch und faktisch ist zwar zu jeder Zeit Menschenliebe dagewesen, aber theoretisch zur Sprache gebracht und förmlich als Tugend, und zwar als die größte von allen aufgestellt, sogar auch auf die Feinde ausgedehnt, wurde sie zuerst vom Christentum. (E. 226.) Das Altertum, von seinem niedrigeren ethischen Standpunkte aus, billigte, ja ehrte den Selbstmord, während das Christentum, von seinem höheren Standpunkt aus, ihn verwirft. (P. II, 332.) Diesem Gegensatz des ethischen Standpunkts entspricht auch der Gegensatz zwischen dem antiken und christlichen Trauerspiel. Wie der stoische Gleichmut von der christlichen Resignation sich von Grund aus dadurch unterscheidet, dass er nur gelassenes Ertragen und gefasstes Erwarten der unabänderlich notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben des Willens; ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge des Schicksals, das christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt. Aber das Trauerspiel der Neuren steht darum auch höher als das der Alten, weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des Trauerspiels (s. Trauerspiel), ja, der Lebensansicht überhaupt gelangt waren. (W. II, 494 fg.) In ihren Komödien haben uns die Alten einen treuen und bleibenden Abdruck ihres heiteren Lebens und Treibens hinterlassen. (P. II, 471.)
Der Begriff des Schicksals bei den Alten ist der einer im Ganzen der Dinge verborgenen rücksichtslosen Notwendigkeit. Die Vorsehung ist das christianisierte Schicksal, also das in die auf das Beste der Welt gerichtete Absicht eines Gottes verwandelte. (P. II, 471.)
In der Philosophie waren die Alten mit ihrem Ausgehen von der objektiven Außenwelt nicht auf dem richtigen Wege. Wenn man bedenkt, dass das Objekt durch das Subjekt bedingt ist, folglich die unermessliche Außenwelt ihr Dasein nur im Bewusstsein erkennender Wesen hat, so geht man zu der Ansicht über, dass nur die nach innen gerichtete, vom Subjekt als dem unmittelbar Gegebenen ausgehende Philosophie, also die der Neuren seit Cartesius, auf dem richtigen Wege sei, mithin die Alten die Hauptsache übersehen haben. (P. II, 17.) Die Philosophie der Alten, gleichsam noch im Stande der Unschuld, hat die zwei tiefsten und bedenklichsten Probleme der neueren Philosophie noch nicht zum deutlichen Bewusstsein gebracht, nämlich die Frage nach der Freiheit des Willens und die nach der Realität der Außenwelt oder dem Verhältnis des Idealen zum Realen. (E. 64.) Die tiefe Kluft zwischen dem Idealen und Realen gehört nämlich zu den Dingen, deren man wie der Bewegung der Erde nicht unmittelbar inne wird; darum hatten die Alten sie, wie eben auch diese, nicht bemerkt. (W. II, 214.) Die Intellektualität der Anschauung jedoch (vgl. Anschauung) ist im Allgemeinen schon von den Alten eingesehen worden. (G. 75.)