Trauerspiel.
1) Das Trauerspiel als der Gipfel der Dichtkunst.
Das Trauerspiel ist, sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung, als auf die Schwierigkeit der Leistung, als der Gipfel der Dichtkunst anzusehen und ist dafür anerkannt. (W. I, 298. Vergl. unter Drama: Drei Stufen des Dramas.)
Es gehört zu den gangbaren Irrtümern, dass es leichter sei, eine
gute Tragödie, als eine gute Komödie zu schreiben. (P. II, 64.)
2) Tendenz und Wirkung des Trauerspiels.
Die eigentümliche Tendenz und Wirkung des Trauerspiels ist, durch Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens, im Zuschauer den Geist der Resignation, das Abwenden des Willens vom Leben hervorzurufen. (W. II, 495 fg.) Im Trauerspiel wird uns der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen vorgeführt. Hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit des Daseins und die Aufforderung zur Abwendung von demselben. Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt. (W. I, 298 fg.; II, 493.) Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich. (W. I, 300.) Hingegen beruht die Forderung der sogenannten poetischen Gerechtigkeit auf gänzlichem Verkennen des Wesens des Trauerspiels. (S. unter Gerechtigkeit: Die poetische Gerechtigkeit.)
Furcht und Mitleid, in deren Erregung Aristoteles den letzten Zweck
des Trauerspiels setzt, können nicht Zweck, sondern nur Mittel sein.
Aufforderung zur Abwendung des Willens vom Leben bleibt die wahre
Tendenz des Trauerspiels, der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung
der Leiden der Menschheit, und ist es mithin auch da, wo diese refigurierte
Erhebung des Geistes nicht am Helden selbst gezeigt, sondern
bloß im Zuschauer erregt wird. (W. II, 495 fg.)
3) Behandlungsart des Trauerspiels.
Die vielen verschiedenen Wege, auf welchen vom Dichter das in der Tragödie darzustellende große Unglück herbeigeführt wird, lassen sich unter drei Artbegriffe bringen. Es kann nämlich geschehen durch außerordentliche, an die äußersten Grenzen der Möglichkeit streifende Bosheit eines Charakters, welcher der Urheber des Unglücks wird, wie z. B. Richard III, Jago imOthello, Franz Moor u. s. w. Es kann ferner geschehen durch blindes Schicksal, d. i. Zufall und Irrtum, wie im König Ödipus des Sophokles, in den Trachinerinnen, überhaupt in den meisten Tragödien der Alten, unter den Neuren in
Romeo und Julie,
Tankred,
Braut von Messina. Das Unglück kann aber endlich auch herbeigeführt werden durch die bloße Stellung der Personen gegen einander, durch die Verhältnisse. Charaktere, wie sie in moralischer Hinsicht gewöhnlich sind, unter Umständen, wie sie häufig eintreten, sind nämlich so gegen einander gestellt, dass ihre Lage sie zwingt, sich gegenseitig, wissend und sehend, das größte Unheil zu bereiten, ohne dass dabei das Unrecht auf einer Seite ganz allein sei. Diese letztere Art ist den beiden anderen weit vorzuziehen. Die Ausführung in dieser letzteren Art hat aber auch die größte Schwierigkeit. Ein vollkommenes Muster dieser Art ist
Clavigo. (W. I, 300 fg.)
4) Worauf das Gefallen am Trauerspiel beruht.
Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja, es ist der höchste Grad dieses Gefühls. Denn, wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhalten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst ab. Gerade dadurch aber werden wir inne, dass alsdann noch etwas Anderes an uns übrig bleibt, was wir durchaus nicht positiv erkennen können, sondern bloß negativ, als Das, was nicht das Leben will. Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns deutlicher, als jemals, die Überzeugung, dass das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben. Insofern ist die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es, wie dieses, uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, dass wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen finden. Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftritt, den eigentümlichen Schwung zur Erhebung gibt, ist das Aufgehen der Erkenntnis, dass die Welt, das Leben kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht wert sei. Darin besteht der tragische Geist; er leitet demnach zur Resignation hin. (W. II, 493 fg. 722.)5) Vorzug des in hoher Sphäre spielenden Trauerspiels vor dem bürgerlichen Trauerspiel.
Die Griechen nahmen zu Helden des Trauerspiels durchgängig königliche Personen, die Neuren meistenteils auch. Nun ist zwar das in niedrigerer Sphäre spielende bürgerliche Trauerspiel keineswegs unbedingt zu verwerfen. Personen von großer Macht und Ansehen sind jedoch deswegen zum Trauerspiel die geeignetsten, weil das Unglück, an welchem wir das Schicksal des Menschenlebens erkennen sollen, eine hinreichende Größe haben muss, um dem Zuschauer, wer er auch sei, als furchtbar zu erscheinen. Den bürgerlichen Personen fehlt es an Fallhöhe. (W. II, 498. H. 372.)6) Vergleichung des Trauerspiels der Alten mit dem der Neuen.
(S. die Alten.)7) Zweck des Chors im Trauerspiel.
Der ästhetische Zweck des Chors im Trauerspiel ist erstlich, dass neben der Ansicht, welche die vom Sturme der Leidenschaften erschütterten Hauptpersonen von den Sachen haben, auch die der ruhigen, anteilslosen Besonnenheit zur Sprache komme, und zweitens, dass die wesentliche Moral des Stücks, welche in konkreto die Handlung desselben sukzessive darlegt, zugleich auch als Reflexion über diese, in abstrakto, folglich kurz, ausgesprochen werde. (P. 471.)8) Widerlegung einer modernen Ansicht vom Trauerspiel.
DerKampf des Menschen mit dem Schicksal, welchen unsere faden, hohlen, süßlichen, modernen Ästhetiker als das allgemeine Thema des Trauerspiels aufstellen, hat zu seiner Voraussetzung die Freiheit des Willens, diese Marotte aller Ignoranten, und dazu wohl auch noch den kategorischen Imperativ, dessen moralische Zwecke, oder Befehle, dem Schicksale zum Trotz, nun durchgesetzt werden sollen. Jenes vorgebliche Thema des Trauerspiels ist schon darum ein lächerlicher Begriff, weil es der Kampf mit einem unsichtbaren Gegner, einen Kämpen in der Nebelkappe wäre, gegen den daher jeder Schlag ins Leere geführt würde und dem man sich in die Arme würfe, indem man ihm ausweichen wollte. Dazu kommt, dass das Schicksal allgewaltig ist, daher mit ihm zu kämpfen die lächerlichste aller Vermessenheiten wäre. (P. II, 470.)