Religion.
1) Bedeutung der Religion.
Die Religion ist das einzige Mittel, dem rohen Sinn und ungelenken Verstande der in niedriges Treiben und materielle Arbeit tief eingesenkten Menge die hohe Bedeutung des Lebens anzukündigen und fühlbar zu machen. Die Religion ist die Metaphysik des Volkes, die man ihm schlechterdings lassen und daher sie äußerlich achten muss. Wie es eine Volkspoesie gibt und in den Sprichwörtern eine Volksweisheit, so muss es auch eine Volksmetaphysik geben; denn die Menschen bedürfen schlechterdings einer Auslegung des Lebens, und sie muss ihrer Fassungskraft angemessen sein. Daher ist sie allemal eine allegorische Einkleidung der Wahrheit, und sie leistet in praktischer und gemütlicher Hinsicht, d. h. als Richtschnur für das Handeln und als Beruhigung und Trost im Leiden und im Tode vielleicht eben so viel, wie die Wahrheit, wenn wir sie besäßen, selbst leisten könnte. Die verschiedenen Religionen sind eben nur verschiedene Schemata, in welchen das Volk die ihm an sich selbst unfassbare Wahrheit ergreift und sich vergegenwärtigt, mit welchen sie ihm jedoch unzertrennlich verwächst. (W. II, 183 fg. P. II, 347 fg. 354. 356 fg. 362 fg. H. 428. Vergl. unter Metaphysik: Unterschied zweier Arten von Metaphysik.)2) Worauf Kraft und Bestand der Religionen beruht.
Zwei Punkte sind es, die nicht nur jeden denkenden Menschen beschäftigen, sondern auch den Anhängern jeder Religion zumeist am Herzen liegen, daher Kraft und Bestand der Religionen auf ihnen beruht: erstlich die transzendente moralische Bedeutsamkeit unseres Handelns, und zweitens unsere Fortdauer nach dem Tode. Wenn eine Religion für diese beiden Punkte gut gesorgt hat, so ist alles Übrige Nebensache. (P. I, 132.) Wegen der unleugbaren ethisch-metaphysischen Tendenz des Lebens könnte ohne eine in diesem Sinne gegebene Auslegung desselben keine Religion in der Welt Fuß fassen; denn mittelst ihrer ethischen Seite hat jede ihren Anhaltspunkt in den Gemütern. (E. 262.)3) Wovon der Wert einer Religion abhängt.
Religionen können, als auf die Fassungskraft der großen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben. Der Wert einer Religion wird demnach abhängen von dem größeren oder geringeren Gehalt an Wahrheit, den sie unter dem Schleier der Allegorie in sich trägt, sodann von der größeren oder geringeren Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch diesen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtigkeit des letzteren. Fast scheint es, dass, wie die ältesten Sprachen die vollkommensten sind, so auch die ältesten Religionen. (W. II, 186.)4) Fundamentalunterschied aller Religionen.
Der Fundamentalunterschied aller Religionen ist nicht, wie durchgängig geschieht, darein zu setzen, ob sie monotheistisch, polytheistisch, pantheistisch, oder atheistisch sind; sondern darein, ob sie optimistisch oder pessimistisch sind. (W. II, 187 fg.)
Atheismus ist nicht gleichbedeutend mit Religionslosigkeit. (S.
Atheismus.)
5) Ein wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion.
(S. Mysterien.)6) Unabhängigkeit der Moralität von der Religion.
Man darf nicht der Religion zuschreiben, was Folge der Güte des Charakters ist. Das Mitleid, dieses echte moralische Motiv der Gerechtigkeit und Menschenliebe (vergl. Moralisch. Moralität) ist von aller Religion unabhängig. (P. II, 377.) Wir sind über die wahren Motive unseres eigenen Thuns bisweilen eben so sehr im Irrtum, wie über die des fremden; daher zuverlässig Mancher, indem er von seinen edelsten Handlungen nur durch religiöse Motive sich Rechenschaft zu geben weiß, dennoch aus viel edleren und reineren, aber auch viel schwerer deutlich zu machenden Triebfedern handelt und wirklich aus unmittelbarer Liebe des Nächsten tut, was er bloß durch seines Gottes Geheiß zu erklären versteht. (E. 202. H. 427. Vergl. auch Dogmen.)7) Unabhängigkeit der gesetzlichen Ordnung von der Religion.
Es ist falsch, dass Staat, Recht und Gesetz nicht ohne Beihilfe der Religion und ihrer Glaubensartikel aufrecht erhalten werden können, und dass Justiz und Polizei, um die gesetzliche Ordnung durchzusetzen, der Religion als ihres notwendigen Komplements bedürfen. Eine faktisch e und schlagende instantia in contrarium, liefern uns die Alten, zumal die Griechen, welche keine heilige Urkunden und kein Dogma hatten, das gelehrt, dessen Annahme von Jedem gefordert und das der Jugend frühzeitig eingeprägt worden wäre. Also ist die heutzutage allgemein beliebte Annahme, dass die Religion die unentbehrliche Grundlage aller gesetzlichen Ordnung sei, unhaltbar. (P. II, 355 fg. 369.)
Der Eid lässt sich allerdings als unleugbares Beispiel praktischer
Wirksamkeit der Religion anführen. Dass jedoch diese auch außerdem
weit reicht, ist zu bezweifeln. Man stelle sich vor, es würden plötzlich
durch öffentliche Proklamation alle Kriminalgesetze aufgehoben erklärt,
so würde wohl kaum Einer den Mut haben, unter dem bloßen Schutz
der religiösen Motive auch nur allein über die Straße zu gehen.
Würde hingegen auf gleiche Weise alle Religion für unwahr erklärt,
so würde man, unter dem Schutz der Gesetze allein, ohne sonderliche
Vermehrung der Besorgnisse und Vorsichtsmaßregeln, nach wie vor
leben. (P. II, 378 fg.)
Nicht nur von den philosophischen, auf bloße Theorie berechneten,
sondern auch von den ganz zum praktischen Behuf aufgestellten, religiösen
Moralprinzipien lässt sich selten eine entschiedene Wirksamkeit
nachweisen. Dies sehen wir zuvörderst daran, dass trotz der großen
Religionsverschiedenheit auf Erden der Grad der Moralität, oder vielmehr
Immoralität, durchaus keine jener entsprechende Verschiedenheit
aufweist, sondern im Wesentlichen so ziemlich überall der selbe ist. Nur
muss man nicht Rohheit und Verfeinerung mit Moralität und Immoralität
verwechseln. (E. 233 fg.) Wen weder der Gedanke an
Justiz und Polizei, noch die Rücksicht auf seine Ehre von einem
meditierten Verbrechen zurückhält, über den wird gewiss noch weniger
irgend ein Religionsdogma Macht genug haben, um ihn zurückzuhalten.
Denn wen nahe und gewisse Gefahren nicht abschrecken, den werden
die entfernten und bloß auf Glauben beruhenden schwerlich im Zaum
halten. (E. 235.)
8) Demoralisierender Einfluss der Religionen.
Die Religionen haben sehr häufig einen entschieden demoralisierenden Einfluss. Im Allgemeinen ließe sich behaupten, dass was den Pflichten gegen Gott beigelegt wird, den Pflichten gegen die Menschen entzogen wird, indem es sehr bequem ist, den Mangel des Wohlverhaltens gegen diese durch Adulation gegen jenen zu ersetzen. Demgemäß sehen wir in allen Zeiten und Ländern die große Mehrzahl der Menschen es viel leichter finden, den Himmel durch Gebete zu erbetteln, als durch Handlungen zu verdienen. In jeder Religion kommt es bald dahin, dass für die nächsten Gegenstände des göttlichen Willens nicht sowohl moralische Handlungen, als Glaube, Tempelzeremonien und Latreia mancherlei Art ausgegeben werden; ja, allmählich werden die letzteren, zumal wenn sie mit Emolumenten der Priester verknüpft sind, auch als Surrogate der ersteren betrachtet. Nimmt man noch dazu die Gräuel des Fanatismus, der Verfolgungen, Religionskriege, so erscheint der demoralisierende Einfluss der Religionen weniger problematisch als der moralisierende. (P. II, 379 fg.) Die Religionen scheinen nicht sowohl die Befriedigung, als der Missbrauch des metaphysischen Bedürfnisses zu sein. Wenigstens ist in Hinsicht auf Beförderung der Moralität ihr Nutzen großenteils problematisch, ihre Nachteile hingegen und zumal die Gräueltaten, welche in ihrem Gefolge sich eingestellt haben, liegen am Tage. (P. II, 384)
Jede Religion legt ihr Dogma der jedem Menschen fühlbaren, aber
deshalb noch nicht verständlichen, moralischen Triebfeder zum Grunde
und verknüpft es so eng mit derselben, dass beide als unzertrennlich
erscheinen; ja, die Priester sind bemüht, Unglauben und Immoralität
für Eins und Dasselbe auszugeben. Hierauf beruht es, dass dem
Gläubigen der Ungläubige für identisch mit dem moralisch Schlechten
gilt, wie wir schon daran sehen, dass Ausdrücke, wie Gottlos, Atheistisch,
Unchristlich, Ketzer u. dgl. als synonym mit moralisch Schlecht gebraucht
werden. (E. 262 fg. Vergl. Fanatismus.)
9) Konflikt der Religion mit der Bildung und Wissenschaft.
Die Allegorie, in welche die Religion die Wahrheit einkleidet, darf, um ihre Wirksamkeit nicht zu verlieren, sich nicht eingeständlich als Allegorie geben, sondern muss sich als sensu proprio wahr geltend machen und behaupten, während sie doch höchstens sensu allegorico wahr ist. Hier liegt der unheilbare Schaden, der bleibende Übelstand, welcher Ursache ist, dass die Religion mit dem unbefangenen, edlen Streben nach reiner Wahrheit stets in Konflikt geraten ist und es immer von Neuem wird. (P. II, 357 fg.)
Die Religion hat, da sie in ihrer mythischen Form die Wahrheit
nicht anders, als mit der Lüge versetzt gibt, zwei Gesichter, eines der
Wahrheit und eines des Trugs. Je nachdem man das eine, oder
das andere ins Auge fasst, wird man sie lieben oder anfeinden. Daher
muss man sie als ein notwendiges Übel betrachten, dessen Notwendigkeit
auf der erbärmlichen Geistesschwäche der großen Mehrzahl
der Menschen beruht, welche die Wahrheit zu fassen unfähig ist und
daher eines Surrogats derselben bedarf. (P. II, 361.) Die Religion
tritt mit dem Anspruch auf, nicht bloß allegorisch, sondern im buchstäblichen
Sinne wahr zu sein; darin liegt der Trug, und hier ist es,
wo der Freund der Wahrheit sich ihr feindlich entgegenstellen muss.
(P. II, 366.) Die Religion hat, wie der Janus, oder besser wie
der Brahmanische Todesgott Yama, zwei Gesichter und eben auch,
wie dieser, ein sehr freundliches und ein sehr finsteres. Daher sich
Entgegengesetztes von ihr aussagen lässt, je nach dem man das eine
oder das andere ins Auge fasst. (P. II, 386.)
Die Religion wird durch fortschreitende Verstandesbildung zurückgedrängt,
wird abstrakter, und da ihr Wesen Bildlichkeit ist, muss sie
sobald ein gewisser Grad von Verstandesbildung allgemein geworden,
ganz fallen. (H. 429. Vergl. unter Glaube, Glaubenslehre:
Abnahme des Glaubens mit der Zunahme der Kultur.) Die Religionen
sind wie die Leuchtwürmer; sie bedürfen der Dunkelheit, um zu leuchten.
Ein gewisser Grad allgemeiner Unwissenheit ist die Bedingung aller
Religionen, ist das Element, in welchem allein sie leben können. Sobald
hingegen Astronomie, Naturwissenschaft, Geologie, Geschichte,
Länder- und Völkerkunde ihr Licht allgemein verbreiten und endlich gar
die Philosophie zum Worte kommen darf, da muss jeder auf Wunder
und Offenbarung gestützte Glaube untergehen, worauf dann die Philosophie
seinen Platz einnimmt. (P. II, 369—371.)
Dass die Zivilisation unter den christlichen Völkern am höchsten
steht, liegt nicht daran, dass das Christentum ihr günstig, sondern
daran, dass es abgestorben ist und wenig Einfluss mehr hat; so lange
es ihn hatte, war die Zivilisation weit zurück, im Mittelalter. (Vergl.
Mittelalter.) Hingegen haben Islam, Brahmanismus und Buddhismus
noch durchgreifenden Einfluss aufs Leben; in China noch am
wenigsten, daher die Zivilisation der europäischen ziemlich gleich kommt.
Alle Religion steht im Antagonismus mit der Kultur. (P. II, 423 fg.)
Religionen sind dem Volke notwendig, und sind ihm eine unschätzbare
Wohltat. Wenn sie jedoch den Fortschritten der Menschheit in
der Erkenntnis der Wahrheit sich entgegenstellen wollen; so müssen sie
mit möglichster Schonung bei Seite geschoben werden. Und zu verlangen,
dass sogar ein großer Geist — ein Shakespeare, ein Göthe —
die Dogmen irgend einer Religion bona fide et sensu proprio zu
seiner Überzeugung mache, ist wie verlangen, dass ein Riese den Schuh
eines Zwerges anziehe. (W. II, 185.)