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Schopenhauers Kosmos

 

 Glaube. Glaubenslehre.

1) Radikale Verschiedenheit zwischen Glauben und Wissen.

Die Wissenschaft hat es mit dem zu tun, was man wissen kann; der Glaube hingegen lehrt, was man nicht wissen kann. Denn könnte man es wissen, so würde der Glaube als unnütz und lächerlich dastehen, etwa wie wenn hinsichtlich der Mathematik eine Glaubenslehre aufgestellt würde. Der Glaube könnte nun immerhin mehr lehren, als die Wissenschaft, ohne mit dieser in Konflikt zu kommen, jedoch nichts mit den Ergebnissen dieser Unvereinbares, weil nämlich das Wissen aus einem härteren Stoff ist, als der Glaube, so dass, wenn sie gegen einander stoßen, dieser bricht. Jedenfalls sind beide vom Grund aus verschiedene Dinge, die, zu ihrem beiderseitigen Wohl, streng geschieden bleiben müssen. (P. II, 386 fg.) Glauben und Wissen vertragen sich nicht wohl im selben Kopfe; sie sind darin, wie Wolf und Schaf in Einem Käfig; und zwar ist das Wissen der Wolf, der den Nachbar aufzufressen droht. (P. II, 419.)

2) Abnahme des Glaubens mit der Zunahme der Kultur.

Es gibt einen Siedepunkt auf der Skala der Kultur, wo aller Glaube, alle Offenbarung, alle Auktoritäten sich verflüchtigen, der Mensch nach eigener Einsicht verlangt, belehrt, aber auch überzeugt sein will. Dann wird es Ernst mit dem Verlangen nach Philosophie; denn das metaphysische Bedürfnis ist so unvertilgbar, als irgend ein physisches. Mit der Unfähigkeit zum Glauben wächst das Bedürfnis der Erkenntnis. (G. 122.)
Es ist augenscheinlich, dass nachgerade die Völker schon damit umgehen, das Joch des Glaubens abzuschütteln; die Symptome davon zeigen sich überall, wiewohl in jedem Lande anders modifiziert. Die Ursache ist das zu viele Wissen, welches unter sie gekommen ist. Die sich täglich vermehrenden und nach allen Richtungen sich immer weiter verbreitenden Kenntnisse jeder Art erweitern den Horizont eines Jeden, so dass der Mythenglaube schwinden muss. Die Menschheit wächst die Religion aus, wie ein Kinderkleid. (P. II, 419.)

3) Unerzwingbarkeit des Glaubens.

Der Glaube ist wie die Liebe; er lässt sich nicht erzwingen. Daher ist es ein missliches Unternehmen, ihn durch Staatsmaßregeln einführen oder befestigen zu wollen. Denn wie der Versuch, Liebe zu erzwingen, Hass erzeugt; so der, Glauben zu erzwingen, erst recht Unglauben. Nur ganz mittelbar und folglich durch lange zum Voraus getroffene Anstalten, kann man den Glauben befördern, indem man nämlich ihm ein gutes Erdreich, darauf er gedeiht, vorbereitet; ein solches ist die Unwissenheit. (P. II, 420.)

4) Schädliche Wirkung früh eingeprägter Glaubenslehren.

Zum Glauben ist die Fähigkeit am stärksten in der Kindheit. Durch Bemächtigung daher dieses zarten Alters viel mehr noch, als durch Drohungen und Berichte von Wundern, schlagen die Glaubenslehren Wurzel. Wenn nämlich dem Menschen in früher Kindheit gewisse Grundansichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Miene des höchsten, bis dahin von ihm noch nie gesehenen Ernstes wiederholt vorgetragen werden, dabei die Möglichkeit eines Zweifels daran ganz übergangen, oder darauf als auf einen Schritt zum ewigen Verderben hingedeutet wird; da wird in der Regel der Mensch beinahe so unfähig sein, an jenen Lehren, wie an seiner Existenz, zu zweifeln; weshalb dann unter vielen Tausenden kaum Einer die Stärke des Geistes haben wird, nach der Wahrheit der überlieferten Glaubenslehre zu fragen. Passender, als man dachte, hat man daher Die, welche es dennoch vermögen, starke Geister, esprits forts, benannt. Für die Übrigen aber gibt es nichts so Absurdes, oder Empörendes, dass nicht, wenn auf jenem Wege eingeimpft, der festeste Glaube daran in ihnen Wurzel schlüge. (P. II, 349 fg.)

5) Zweck aller Glaubenslehren.

Der großen Menge, welche die Wahrheit rein und an sich zu fassen nicht fähig ist, ein Surrogat derselben in Form des Mythos zu geben, welches als Regulativ für das Handeln hinreichend ist, indem es die ethische Bedeutung desselben, in der dieser selbst ewig fremden Erkenntnisweise gemäß dem Satze vom Grunde, doch durch bildliche Darstellung fasslich macht, — ist der Zweck aller Glaubenslehren, indem sie sämtlich mythische Einkleidungen der dem rohen Menschensinn unzugänglichen Wahrheit sind. (W. I, 420.)

6) Was jeder Glaubenslehre ihre große Kraft gibt.

Was jeder positiven Glaubenslehre ihre große Kraft gibt, der Anhaltspunkt, durch welchen sie die Gemüter fest in Besitz nimmt, ist durchaus ihre ethische Seite, wiewohl nicht unmittelbar als solche, sondern indem sie mit dem übrigen, der jedesmaligen Glaubenslehre eigentümlichen mythischen Dogma fest verknüpft und verwebt, als allein durch dasselbe erklärbar erscheint, so dass die Gläubigen die ethische Bedeutung des Handelns und ihren Mythos für ganz unzertrennlich, ja schlechthin Eins halten und nun jeden Angriff auf den Mythos für einen Angriff auf Recht und Tugend halten. (W. I, 427, Anmerk.)