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Schopenhauers Kosmos

 

 Vernunft.

1) Geschichtliches.

Alles Das, was zu allen Zeiten und von allen Völkern ausdrücklich als Äußerung oder Leistung der Vernunft, des λογος, λογιστικον, ratio, la ragione, la razon, la raison, reason, betrachtet worden, läuft augenfällig zurück auf das nur der abstrakten, diskursiven, reflektiven, an Worte gebundenen und mittelbaren Erkenntnis, nicht aber der bloß intuitiven, unmittelbaren, sinnlichen, deren auch die Tiere teilhaft sind, Mögliche. Ratio et oratio stellt Cicero ganz richtig zusammen. In diesem Sinne aber haben alle Philosophen überall und jederzeit von der Vernunft geredet, bis auf Kant, welcher übrigens selbst sie noch als das Vermögen der Prinzipien und des Schließens bestimmt; wiewohl nicht zu leugnen ist, dass er Anlass gegeben hat zu den nachherigen Verdrehungen. (G. 110 fg. W. I, 45 fg. 617; II, 73.)
In den letzten fünfzig Jahren haben sämtliche Philosophaster in Deutschland mit dem Begriffe der Vernunft Possen getrieben, indem sie, mit unverschämter Dreistigkeit, unter diesem Namen ein völlig erlogenes Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, sogenannter übersinnlicher Erkenntnisse einschwärzen wollten, die wirkliche Vernunft hingegen Verstand benannten, den eigentlichen Verstand aber, als ihnen sehr fremd, ganz übersahen und seine intuitiven Funktionen der Sinnlichkeit zuschrieben. (W. II, 73; I, 617 fg. G. 111 ff. E. 146 fg.)

2) Ursprung des Wortes Vernunft.

Vernunft kommt von Vernehmen, aber nur, weil sie dem Menschen den Vorzug vor dem Tiere gibt, nicht bloß zu hören, sondern auch zu vernehmen, jedoch nicht, wie die Philosophaster vorgeben, das sogenannte Übersinnliche (Wolkenkuckucksheim) zu vernehmen, sondern was ein vernünftiger Mensch dem Anderen sagt. (E. 147 fg. W. I, 44. G. 112 fg. P. I, 122. — Über das Gehör als den Sinn der Vernunft s. unter Sinne: Gegensatz zwischen Gesicht und Gehör.)

3) Die Funktion der Vernunft.

Die Vernunft hat nur eine Funktion: Bildung des Begriffs, und aus dieser einzigen erklären sich alle Erscheinungen, die das Leben des Menschen von dem des Tieres unterscheiden, und auf die Anwendung oder Nicht-Anwendung jener Funktion deutet schlechthin Alles, was man überall und jederzeit vernünftig oder unvernünftig genannt hat. (W. I, 46. 614. G. 97. E. 148 fg.)

4) Der Stoff der Vernunft.

Alles Materielle in unserer Erkenntnis, d. h. Alles, was sich nicht auf subjektive Form, selbsteigene Tätigkeitsweise, Funktion des Intellekts zurückführen lässt, mithin der gesamte Stoff derselben, kommt von außen, nämlich zuletzt aus der, von der Sinnesempfindung ausgehenden, objektiven Anschauung der Körperwelt. Diese anschauliche und dem Stoffe nach empirische Erkenntnis ist es, welche sodann die Vernunft zu Begriffen verarbeitet, die sie durch Worte sinnlich fixiert und dann an ihnen den Stoff hat zu ihren endlosen Kombinationen, mittelst Urteilen und Schlüssen, welche das Gewebe unserer Gedankenwelt ausmachen. Die Vernunft hat also durchaus keinen materiellen, sondern bloß einen formellen Inhalt. Stoff aus eigenen Mitteln liefern kann sie nimmermehr. Sie hat nichts als Formen; sie ist weiblich, sie empfängt bloß, erzeugt nicht. (G. 115 fg. Vergl. Angeboren.)

5) Erkenntnisse aus reiner Vernunft.

Erkenntnisse aus reiner Vernunft sind solche, deren Ursprung im formellen Teil unseres Erkenntnisvermögens, sei es des denkenden, oder anschauenden, liegt, die wir also a priori, d. h. ohne Hilfe der Erfahrung, uns zum Bewusstsein bringen können; sie beruhen allemal auf Sätzen von transzendentaler, oder auch von metalogischer Wahrheit. (G. 117. — Über die transzendentale und metalogische Wahrheit vergl. unter Grund: Satz vom Grunde des Erkennens.)

6) Die im Gebiete der Vernunft herrschende Gestalt des Satzes vom Grunde.

(S. unter Grund: Satz vom Grunde des Erkennens.)

7) Gegensatz der theoretischen und praktischen Vernunft.

Theoretisch ist die Vernunft nur, sofern die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, auf das Handeln des Denkenden keine Beziehung, sondern lediglich ein theoretisches Interesse haben. Praktisch hingegen ist sie in allen Beziehungen auf das Handeln. Was in diesem Sinne praktische Vernunft heißt, wird so ziemlich durch das lateinische Wort prudentia, welches das zusammengezogene providentia ist, bezeichnet, da hingegen ratio meistens die eigentlich theoretische Vernunft bedeutet. (W. I, 614.)
Als praktisch zeigt sich die Vernunft in den vernünftigen Charakteren und der vernünftigen Handlungsweise. Die recht vernünftigen Charaktere, die man deswegen im gemeinen Leben praktische Philosophen nennt, zeichnen sich durch ungemeinen Gleichmut und festes Beharren bei gefassten Entschlüssen aus. (W. I, 615 fg. Vergl. Stoizismus.) Die der Leidenschaftlichkeit entgegengesetzte Vernünftigkeit des Charakters besteht eigentlich darin, dass der Wille nie den Intellekt dermaßen überwältigt, dass er ihn verhindere, seine Funktion der deutlichen, vollständigen und klaren Darlegung der Motive richtig auszuüben. (W. II, 680.)
Unter einer vernünftigen Handlungsweise versteht man eine ganz konsequente, also von allgemeinen Begriffen ausgehende und von abstrakten Gedanken, als Vorsätzen, geleitete, nicht aber durch den flüchtigen Eindruck der Gegenwart bestimmte. (G. 116.) In allen erdenklichen Fällen läuft der Unterschied zwischen vernünftigem und unvernünftigem Handeln darauf zurück, ob die Motive abstrakte Begriffe, oder anschauliche Vorstellungen sind. (W. I, 616. 102; II, 163. E. 35. 149 fg.)
Mangel an Anwendung der Vernunft auf das Praktische ist Torheit. (W. I, 28.)

8) Vorzug des Menschen vor dem Tiere durch die Vernunft.

(S. unter Mensch: Unterschied zwischen Tier und Mensch.)

9) Verhältnis der Sprache zur Vernunft.

(S. Sprache.)

10) Vorteile und Nachteile der Vernunft.

(S. unter Begriff: Wichtigkeit des Begriffs und: Nachteile des Begriffs.)

11) Vereinbarkeit der Vernunft mit Unverstand.

(S. Unverstand.)

12) Vereinbarkeit der Vernunft mit moralischer Schlechtigkeit.

(S. unter Tugend: Unterschied zwischen tugendhaft und vernünftig.)

13) In welchem Sinne die Vernunft ein Prophet zu heißen verdient.

Die Vernunft verdient auch ein Prophet zu heißen; hält sie uns doch das Zukünftige vor, nämlich als dereinstige Folge und Wirkung unseres gegenwärtigen Thuns. Dadurch eben ist sie geeignet, uns im Zaum zu halten, wann Begierden der Wollust, oder Aufwallungen des Zorns, oder Gelüste der Habsucht uns verleiten wollen zu Dem, was künftig bereut werden müsste. (P. II, 628.)

14) Warum gewisse Sätze für Aussprüche der Vernunft gehalten werden.

Aussprüche der Vernunft nennt Jeder gewisse Sätze, die er ohne Untersuchung für wahr hält und die in festen Kredit bei ihm dadurch gekommen, dass, als er anfing zu reden und zu denken, sie ihm anhaltend vorgesagt und dadurch eingeimpft wurden; daher denn seine Gewohnheit sie zu denken ebenso alt ist, wie die Gewohnheit überhaupt zu denken; sie sind mit seinem Gehirn verwachsen. (P. II, 12 fg.)

15) Kritik des Gegensatzes zwischen Vernunft und Offenbarung.

(S. Offenbarung.)

16) Kants Kritik der reinen Vernunft.

(S. Dogmatismus und Kritizismus.)