Stoizismus.
1) Ursprung und Zweck des Stoizismus.
Die Stoische Ethik ist ursprünglich und wesentlich gar nicht Tugendlehre, sondern bloß Anweisung zum vernünftigen Leben, dessen Ziel und Zweck Glück durch Geistesruhe ist. Der tugendhafte Wandel findet sich dabei gleichsam nur per accidens, als Mittel, nicht als Zweck ein. Der Stoizismus ist also nur ein besonderer Eudämonismus und ist daher seinem ganzen Wesen und Gesichtspunkte nach grundverschieden von den unmittelbar auf Tugend dringenden ethischen Systemen, als da sind die Lehre der Veden, des Platon, des Christentums und Kants. — Die vollkommenste Entwickelung der praktischen Vernunft, der höchste Gipfel, zu dem der Mensch durch den bloßen Gebrauch seiner Vernunft gelangen kann, und aus welchem sein Unterschied vom Tiere sich am deutlichsten zeigt, ist als Ideal dargestellt im Stoischen Weisen. Der Ursprung der Stoischen Ethik liegt in dem Gedanken, ob das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, welche ihm mittelbar, durch planmäßiges Handeln und was aus diesem hervorgeht, so sehr das Leben und dessen Lasten erleichtert, nicht auch fähig wäre, unmittelbar, d. h. durch bloße Erkenntnis ihn den Leiden und Qualen aller Art, welche sein Leben füllen, auf ein Mal zu entziehen.
Die Stoische Ethik, im Ganzen genommen, ist in der Tat ein sehr
schätzbarer und achtenswerter Versuch, das große Vorrecht des Menschen,
die Vernunft, zu einem wichtigen und heilbringenden Zweck zu
benutzen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, welchen
jedes Leben anheimgefallen ist, hinauszuheben, ihn eben dadurch im
höchsten Grade der Würde teilhaft zu machen, welche ihm als vernünftigen
Wesen im Gegensatz zum Tiere zusteht. (W. II, 103 —
108. 375.)
Wenn wir das Ziel des Stoizismus, jenen unerschütterlichen Gleichmut
(αταραξια) in der Nähe betrachten; so finden wir darin eine
bloße Abhärtung und Unempfindlichkeit gegen die Streiche des Schicksals,
dadurch erlangt, dass man die Kürze des Lebens, die Leerheit der
Genüsse, den Unbestand des Glückes sich stets gegenwärtig erhält, auch
eingesehen hat, dass zwischen Glück und Unglück der Unterschied sehr
viel kleiner ist, als unsere Antizipation Beider ihn uns vorspiegeln
lässt. Dies ist aber noch kein glücklicher Zustand, sondern nur das
gelassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeidlich vorhergesehen
hat. Doch liegt Geistesgröße und Würde darin, dass man schweigend
und gelassen das Unvermeidliche trägt. — Man kann demnach den
Stoizismus auch auffassen als eine geistige Diätetik, welcher gemäß,
wie man den Leib gegen Einflüsse des Windes und Wetters, gegen
Ungemach und Anstrengungen abhärtet, man auch sein Gemüt abzuhärten
hat gegen Unglück, Gefahr, Verlust, Ungerechtigkeit, Tücke, Verrat,
Hochmut und Narrheit des Menschen. (W. II, 174 fg.)
2) Widersprüche und Sophismen des Stoizismus.
So sehr auch der Zweck der Stoischen Ethik in gewissem Grade erreichbar ist; so fehlt dennoch sehr viel, dass etwas Vollkommenes in dieser Art zu Stande kommen und wirklich die richtig gebrauchte Vernunft uns aller Last und allen Leiden des Lebens entziehen und zur Glückseligkeit führen könnte. Es liegt vielmehr ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden. Dieser Widerspruch offenbart sich schon dadurch, dass der Stoiker genötigt ist, seiner Anweisung zum glückseligen Leben eine Empfehlung des Selbstmordes einzuflechten, für den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die sich durch keine Sätze und Schlüsse wegphilosophieren lassen, überwiegend und unheilbar sind, sein alleiniger Zweck, Glückseligkeit, also doch vereitelt ist, und nichts bleibt, um dem Leiden zu entgehen, als der Tod. Der innere Widerspruch, mit welchem die Stoische Ethik in ihrem Grundgedanken behaftet ist, zeigt sich ferner auch darin, dass ihr Ideal, der Stoische Weise, in ihrer Darstellung selbst, nie Leben oder innere poetische Wahrheit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß, wohin mit seiner Weisheit, dessen vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glückseligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen lasst. (W. I, 108 fg.)
Die Kyniker waren ausschließlich praktische Philosophen und machten
Ernst mit dem Entbehren. Aus ihnen gingen die Stoiker dadurch
hervor, dass sie das Praktische in ein Theoretisches verwandelten. Sie
meinten, das wirkliche Entbehren alles irgend Entbehrlichen sei nicht
erfordert, sondern es reiche hin, dass man Besitz und Genuss beständig
als entbehrlich und als in der Hand des Zufalls stehend betrachte;
da würde denn die wirkliche Entbehrung, wenn sie etwa eintrete, weder
unerwartet, noch schwer fallen. Man könne immerhin Alles haben
und genießen; nur müsse man die Überzeugung von der Wertlosigkeit
und Entbehrlichkeit solcher Güter einerseits, und von ihrer Unsicherheit
und Hinfälligkeit andererseits stets gegenwärtig erhalten, mithin sie alle
ganz gering schätzen, und allezeit bereit sein, sie aufzugeben. So vervollkommnten
die Stoiker die Theorie des Gleichmuts und der Unabhängigkeit
auf Kosten der Praxis, indem sie Alles auf einen mentalen
Prozess zurückführten und durch Argumente, wie sie das erste
Kapitel des Epiktet darbietet, sich alle Bequemlichkeiten des Lebens
heransophistizierten. Sie hatten aber dabei außer Acht gelassen, dass
alles Gewohnte zum Bedürfnis wird und daher nur mit Schmerz
entbehrt werden kann; dass der Wille nicht mit sich spielen lässt, nicht
genießen kann, ohne die Genüsse zu lieben; dass ein Hund nicht gleichgültig
bleibt, indem man ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht,
und ein Weiser, wenn er hungrig ist, auch nicht; und dass es zwischen
Begehren und Entsagen kein Mittleres gibt. Die Stoiker waren bloße
Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten sie sich ungefähr, wie
wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern.
Je mehr sie die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten
sie die Theorie zu. (W. II, 167—173.)