Sinne. Sinnesempfindung.
1) Funktion der Sinne im Allgemeinen.
Die Sinne sind bloß die Ausläufe des Gehirns, durch welche es von außen den Stoff empfängt (in Gestalt der Empfindung), den es zur anschaulichen Vorstellung verarbeitet. (W. II, 30.) Die Anschauung, die Erkenntnis von Objekten, von einer objektiven Welt, ist das Werk des Verstandes. Die Sinne sind bloß die Sitze einer gesteigerten Sensibilität, sind Stellen des Leibes, welche für die Einwirkung anderer Körper in höherem Grade empfänglich sind, und zwar steht jeder Sinn einer besonderen Art von Einwirkung offen, für welche die übrigen entweder wenig oder gar keine Empfänglichkeit haben. (F. 8.)
Man muss von allen Göttern verlassen sein, um zu wähnen, die
objektive Welt sei ohne unser Zutun vorhanden, gelange dann aber
durch die bloße Sinnesempfindung in unseren Kopf, woselbst sie nun,
wie da draußen, noch einmal dastände. Denn was für ein ärmliches
Ding ist doch die bloße Sinnesempfindung. Sie ist und bleibt subjektiv.
Etwas Objektives liegt in keiner Empfindung. Die Empfindung
in den Sinnesorganen ist eine durch den Zusammenfluss der
Nervenenden erhöhte, wegen der Ausbreitung und der dünnen Bedeckung
derselben leicht von außen erregbare und zudem irgend einem speziellen
Einfluss — Licht, Schall, Duft — besonders offen stehende; aber sie
bleibt bloße Empfindung, mithin etwas wesentlich Subjektives, dessen
Veränderungen unmittelbar bloß in der Form des inneren Sinnes,
also der Zeit allein, d. h. sukzessiv, zum Bewusstsein gelangen. (G. 52.
Vergl. Empfindung und Anschauung.)
2) Grund der spezifischen Verschiedenheit der Sinnesempfindungen.
Die spezifische Verschiedenheit der Empfindung jedes der fünf Sinne hat ihren Grund nicht im Nervensystem selbst, sondern nur in der Art, wie es affiziert wird. Danach kann man jede Sinnesempfindung ansehen als eine Modifikation des Tastsinns, oder der über den ganzen Leib verbreiteten Fähigkeit zu fühlen. Denn die Substanz des Nerven (abgesehen vom sympathischen System) ist im ganzen Leibe Eine und dieselbe. Wenn sie nun durch die verschiedenen Sinnesorgane so spezifisch verschiedene Empfindungen erhält; so kann dies nicht an ihr selbst liegen, sondern nur an der Art, wie sie affiziert wird. Diese aber hängt ab teils von dem fremden Agens, von dem sie affiziert wird (Licht, Schall, Duft), teils von der Vorrichtung, durch welche sie dem Eindruck dieses Agens ausgesetzt ist, d. i. von dem Sinnesorgan. (F. 9.)3) Klassifikation der Sinne.
Indem der äußere Sinn, d. h. die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke als reine Data für den Verstand, sich in fünf Sinne spaltete, richteten diese sich nach den vier Elementen, d. h. den vier Aggregationszuständen, nebst dem der Imponderabilität. So ist der Sinn für das Feste (Erde) das Getast, für das Flüssige (Wasser) der Geschmack, für das Dampfförmige, d. h. Verflüchtigte (Dunst, Duft) der Geruch, für das permanent Elastische (Luft) das Gehör, für das Imponderabile (Feuer, Licht) das Gesicht. Das zweite Imponderabile, Wärme, ist eigentlich kein Gegenstand der Sinne, sondern des Gemeingefühls, wirkt daher auch stets direkt auf den Willen, als angenehm, oder unangenehm. (W. II, 31.)4) Dignität der Sinne.
Aus der angegebenen Klassifikation der Sinne ergibt sich ihre relative Dignität. Das Gesicht hat den ersten Rang, sofern seine Sphäre die am weitesten reichende, und seine Empfänglichkeit die feinste ist, was darauf beruht, dass sein Anregendes ein Imponderabile, ein quasi Geistiges ist. Den zweiten Rang hat das Gehör, entsprechend der Luft. Das Getast zeichnet sich durch seine Gründlichkeit und Vielseitigkeit aus. Denn während die anderen Sinne uns jeder nur eine ganz einseitige Beziehung des Objekts angeben, liefert das mit dem Gemeingefühl und der Muskelkraft fest verwachsene Getast dem Verstande die Data zugleich für die Form, Größe, Härte, Glätte, Textur, Festigkeit, Temperatur und Schwere der Körper, und dies Alles mit der geringsten Möglichkeit des Scheins und der Täuschung, denen alle anderen Sinne weit mehr unterliegen. Die beiden niedrigsten Sinne, Geruch und Geschmack, sind schon nicht mehr frei von einer unmittelbaren Erregung des Willens, d. h. sie werden stets angenehm oder unangenehm affiziert, sind daher mehr subjektiv, als objektiv. (W. II, 32; I, 235 fg. G. 55.)
Der objektiven Anschauung dienen eigentlich nur zwei Sinne: das
Getast und das Gesicht. Sie allein liefern die Data, auf deren Grundlage
der Verstand die objektive Welt konstruiert. Die anderen drei Sinne
bleiben in der Hauptsache subjektiv; denn ihre Empfindungen deuten
zwar auf eine äußere Ursache, enthalten aber keine Data zur Bestimmung
räumlicher Verhältnisse derselben. (G. 54.)
5) Was hauptsächlich die Empfindungen des Gesichts und Gehörs zum Stoff der objektiven Anschauung eignet.
Diejenigen Sinnesempfindungen, welche hauptsächlich zur objektiven Auffassung der Außenwelt dienen sollten, mussten an sich selbst weder angenehm noch unangenehm sein, d. h. den Willen ganz unberührt lassen, da sie sonst die Aufmerksamkeit fesseln und wir bei der Wirkung stehen bleiben würden, statt zur Ursache überzugehen. Demgemäß sind Farben und Töne an sich selbst und so lange ihr Eindruck das normale Maß nicht überschreitet, weder schmerzlich nach angenehm, sondern treten mit derjenigen Gleichgültigkeit auf, die sie zum Stoff rein objektiver Anschauungen eignet, was physiologisch darauf beruht, dass in den Organen des Gesichts und Gehörs die den spezifischen äußeren Eindruck aufnehmenden Nerven gar keiner Empfindung von Schmerz fähig sind, sondern keine andere Empfindung, als die ihnen spezifisch eigentümliche, der bloßen Wahrnehmung dienende kennen. Nur vermöge dieser ihnen eigenen Gleichgültigkeit in Bezug auf den Willen werden die Empfindungen des Auges geschickt, dem Verstande die so mannigfaltigen und fein nuancierten Data für die Anschauung der objektiven Welt zu liefern. Eben diese Gleichgültigkeit in Bezug auf den Willen eignet auch die Laute, den Stoff der Bezeichnung für die endlose Mannigfaltigkeit der Begriffe der Vernunft abzugeben. (W. II, 30 fg.)6) Gegensatz zwischen Gesicht und Gehör.
Die Wahrnehmungen des Gehörs sind ausschließlich in der Zeit, die Wahrnehmungen des Gesichts hingegen sind zunächst und vorwaltend im Raume; sekundär, mittelst ihrer Dauer, aber auch in der Zeit. — Das Gesicht ist der Sinn des Verstandes, welcher anschaut, das Gehör der Sinn der Vernunft, welche denkt und vernimmt. — Das Gesicht ist ein aktiver, das Gehör ein passiver Sinn. Daher die störende und feindliche Einwirkung des Geräusches und Lärms auf den Geist. (W. II, 32—35. G. 54. Vergl. Lärm.) Aus der passiven Natur des Gehörs erklärt sich auch die eindringende Wirkung der Musik. (Vergl. unter Musik: Wirkung der Musik.) Hingegen wird aus der aktiven Natur des Sehens begreiflich, warum es kein Analogon der Musik für das Auge geben kann und das Farbenklavier ein lächerlicher Missgriff war. — Wegen seiner aktiven Natur ist der Gesichtssinn bei den Raubtieren sehr scharf, wie umgekehrt der passive Sinn, das Gehör, bei den verfolgten, fliehenden, furchtsamen Tieren.
Während das Gesicht der Sinn des Verstandes, das Gehör der der
Vernunft ist, könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses
nennen. (W. II, 36. Vergl. unter Gedächtnis: Einfluss des Geruchs
auf das Gedächtnis.)
7) Zwiefache Quelle der Erregung der Sinnesempfindungen.
Alle Sinnesnerven können sowohl von innen, als von außen, zu ihren eigentümlichen Empfindungen erregt werden. Das Auge kann durch mechanische Erschütterung, oder durch innere Nervenkonvulsion, Empfindungen von Helle und Leuchten erhalten, die den durch äußeres Licht verursachten völlig gleich sind; das Ohr kann in Folge abnormer Vorgänge in seinem Inneren Töne jeder Art hören, ebenso der Geruchsnerv ohne alle äußere Ursache ganz spezifisch bestimmte Gerüche empfinden, auch der Geschmacksnerv auf analoge Weise affiziert werden. Im Traum findet die Erregung von innen statt. (P. II, 251.)8) Gegen die Verachtung der Sinne.
Der alte Gegensatz zwischen Leib und Seele, demzufolge die Seele unbegreiflicher Weise in den Leib geraten, woselbst sie in ihrem reinen Denken nur Störungen erleide, schon durch die Sinneseindrücke und Anschauungen, noch mehr durch die von diesen erregten Gelüste, Affekte und Leidenschaften (vergl. unter Seele: Geschichtliches), hat zu der Verachtung geführt, mit welcher noch jetzt von den Philosophieprofessoren dieSinnlichkeitund das
Sinnlicheerwähnt, ja zur Hauptquelle der Immoralität gemacht werden; während gerade die Sinne, da sie im Verein mit den apriorischen Funktionen des Intellekts die Anschauung hervorbringen, die lautere und unschuldige Quelle aller unserer Erkenntnisse sind, von welcher alles Denken seinen Gehalt erst erborgt. (W. II, 313.)