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Schopenhauers Kosmos

 

 Poesie.

1) Wesen der Poesie.

Als die einfachste und richtigste Definition der Poesie lässt sich diese aufstellen, dass sie die Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel zu versetzen. (W. II, 482.) Die Absicht aber, in welcher die Poesie unsere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen zu offenbaren, d. h. an einem Beispiel zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei. (W. II, 484.) Wenngleich der Dichter, wie jeder Künstler, uns immer nur das Einzelne, Individuelle vorführt; so ist was er erkannte und uns dadurch erkennen lassen will, doch die (Platonische) Idee, die ganze Gattung; daher wird in seinen Bildern gleichsam der Typus der menschlichen Charaktere und Situationen ausgeprägt sein. (W. II, 485.)
Wie der Botaniker aus dem unendlichen Reichtum der Pflanzenwelt eine einzige Blume pflückt, sie dann zerlegt, um uns die Natur der Pflanze überhaupt daran zu demonstrieren; so nimmt der Dichter aus dem endlosen Gewirr des überall in unaufhörlicher Bewegung dahineilenden Menschenlebens eine einzige Szene, ja, oft nur eine Stimmung und Empfindung heraus, um uns daran zu zeigen, was das Leben und Wesen des Menschen sei. (P. II, 463.)

2) Umfang des Gebietes der Poesie und Hauptgegenstand derselben.

Vermöge der Allgemeinheit des Stoffes, dessen sich die Poesie, um die Ideen mitzuteilen, bedient, nämlich der Begriffe, ist der Umfang ihres Gebietes sehr groß. Die ganze Natur, die Ideen aller Stufen sind durch sie darstellbar, indem sie, nach Maßgabe der mitzuteilenden Idee, bald beschreibend, bald erzählend, bald unmittelbar dramatisch darstellend verfährt. Wenn aber in der Darstellung der niedrigeren Stufen der Objektität des Willens die bildende Kunst sie meistens übertrifft, weil die erkenntnislose und auch die bloß tierische Natur in einem einzigen wohlgefassten Moment fast ihr ganzes Wesen offenbart; so ist dagegen der Mensch, so weit er sich nicht durch seine bloße Gestalt und Ausdruck der Miene, sondern durch eine Kette von Handlungen und sie begleitender Gedanken und Affekte ausspricht, der Hauptgegenstand der Poesie, der es hierin keine andere Kunst gleichtut, weil ihr dabei die Fortschreitung zu Statten kommt, welche den bildenden Künsten abgeht. Offenbarung derjenigen Idee, welche die höchste Stufe der Objektität des Willens ist, Darstellung des Menschen in der zusammenhängenden Reihe seiner Bestrebungen und Handlungen ist also der große Vorwurf der Poesie. (W. I, 287 fg.)
Der Poet zeigt uns, wie sich der Wille unter dem Einfluss der Motive und der Reflexion benimmt. Er stellt ihn daher meistens in der vollkommensten seiner Erscheinungen dar, in vernünftigen Wesen, deren Charakter individuell ist und deren Handeln und Leiden gegeneinander er uns als Drama, Epos, Roman u. s. w. vorführt. (W. II, 337.)

3) Verhältnis der Poesie zur Wirklichkeit.

Der Dichter soll seine Personen so schaffen, wie die Natur selbst, sie denken und reden lassen, jedes seinem Charakter gemäß, wie wirkliche Menschen dies tun. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, dass die strengste Natürlichkeit aller Äußerungen zu suchen sei; denn sonst wird die Natürlichkeit leicht platt. Sondern bei aller Wahrheit in der Darstellung der Charaktere sollen diese doch idealisch gehalten sein. In der Wirklichkeit fällt durch vorübergehende Stimmungen oder Einflüsse Jeder bisweilen aus seinem Charakter; aber in der Poesie darf dies nie sein, hier muss vielmehr die Person in ihrem Tun und Reden ihren Charakter deutlich, rein und streng konsequent offenbaren. Dies eben heißt, der Charakter muss idealisch dargestellt werden; nur das Wesentliche desselben und dieses ganz muss dargestellt werden, alles Zufällige und Störende muss ausgeschlossen bleiben. (H. 364—366.)

4) Die Gattungen der Poesie.

Die Darstellung der Idee der Menschheit, welche dem Dichter obliegt, kann er entweder so ausführen, dass der Dargestellte zugleich auch der Darstellende ist; — dies geschieht in der lyrischen Poesie; — oder aber der Darzustellende ist vom Darsteller ganz verschieden, wie in allen anderen Gattungen, wo mehr oder weniger der Darstellende hinter dem Dargestellten sich verbirgt und zuletzt ganz verschwindet. (W. I, 293. Vergl. Lyrik, Epos, Drama.)

5) Das Material der Poesie.

Ideen sind wesentlich anschaulich; wenn daher in der Poesie das unmittelbar durch Worte Mitgeteilte nur abstrakte Begriffe sind; so ist doch offenbar die Absicht, in den Repräsentanten dieser Begriffe den Hörer die Ideen des Lebens anschauen zu lassen, welche nur durch Beihilfe seiner eigenen Phantasie geschehen kann. Um aber diese dem Zweck entsprechend in Bewegung zu setzen, müssen die abstrakten Begriffe, welche das unmittelbare Material der Poesie sind, so zusammengestellt werden, dass ihre Sphären (vergl. unter Begriff: Begriffssphären) sich dergestalt schneiden, dass keiner in seiner abstrakten Allgemeinheit beharren kann; sondern statt seiner ein anschaulicher Repräsentant vor die Phantasie tritt, den nun die Worte des Dichters immer weiter modifizieren. Diesem Zweck dienen die vielen Epitheta in der Poesie, durch welche die Allgemeinheit jedes Begriffs eingeschränkt wird, mehr und mehr, bis zur Anschaulichkeit. (W. I, 286 fg. H. 369 fg.)
(Über die Zulässigkeit und Zweckdienlichkeit der Allegorie in der Poesie s. Allegorie.)

6) Hilfsmittel der Poesie.

Ein ganz besonderes Hilfsmittel der Poesie sind Rhythmus und Reim. Ihre unglaublich mächtige Wirkung ist daraus erklärbar, dass unsere an die Zeit wesentlich gebundenen Vorstellungskräfte hierdurch eine Eigentümlichkeit erhalten haben, vermöge welcher wir jedem regelmäßig wiederkehrenden Geräusch innerlich folgen und gleichsam mit einstimmen. Dadurch werden nun Rhythmus und Reim ein Bindemittel unserer Aufmerksamkeit, indem wir williger dem Vortrag folgen, teils entsteht durch sie in uns ein blindes, allem Urteil vorhergängiges Einstimmen in das Vorgetragene, wodurch dieses eine gewisse emphatische, von allen Gründen unabhängige Überzeugungskraft erhält. (W. I, 287; II, 487—489.)
Metrum und Reim sind eine Fessel, aber auch eine Hülle, die der Poet um sich wirft, und unter welcher es ihm vergönnt ist zu reden, wie er sonst nicht dürfte; und das ist es, was uns freut. — Das Metrum, oder Zeitmaß, hat, als bloßer Rhythmus, sein Wesen allein in der Zeit, gehört also, mit Kant zu reden, der reinen Sinnlichkeit an; hingegen ist der Reim Sache der Empfindung im Gehörorgan, also der empirischen Sinnlichkeit. Daher ist der Rhythmus ein viel edleres und würdigeres Hilfsmittel, als der Reim. (W. II, 486 fg.)

7) Die Wirkung der Poesie verglichen mit der Wirkung der bildenden Künste.

Dadurch, dass die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt, hat diese den Vorteil, dass die nähere Ausführung und die feineren Züge in der Phantasie eines Jeden so ausfallen, wie es seiner Individualität, seiner Erkenntnissphäre und seiner Laune gerade am angemessensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt; statt dass die bildenden Künste sich nicht so anbequemen können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt Allen genügen soll. Schon hieraus ist es zum Teil erklärlich, dass die Werke der Dichtkunst eine viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung ausüben, als Bilder und Statuen. Diese nämlich lassen das Volk meistens ganz kalt, und überhaupt sind die bildenden die am schwächsten wirkenden Künste. Die Werke der letzteren haben wenig direkte und unvermittelte Wirkung und ihre Schätzung bedarf weit mehr, als die aller andern, der Bildung und Kenntnis. (W. II, 483 fg.)

8) Verhältnis der Poesie zur Geschichte.

(S. Geschichte.)

9) Verhältnis der Poesie zur Philosophie.

Zur Philosophie verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur empirischen Wissenschaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns mit der Erscheinung im Einzelnen und beispielsweise bekannt; die Wissenschaft umfasst das Ganze derselben mittelst allgemeiner Begriffe. So will die Poesie uns mit den (Platonischen) Ideen der Wesen mittelst des Einzelnen und beispielsweise bekannt machen; die Philosophie will das darin sich aussprechende innere Wesen der Dinge im Ganzen und Allgemeinen erkennen lassen. (W. II, 486.) Platon hat in der Geringschätzung und Verwerfung der Poesie dem Irrtum den Tribut gezahlt, den jeder Sterbliche zollen muss. Poesie und Philosophie vertragen sich beide ganz vortrefflich. Sogar ist die Poesie eine Stütze und Hilfe der Philosophie, eine Fundgrube von Beispielen, ein Erregungsmittel der Meditation und ein Probierstein moralischer und psychologischer Lehrsätze. (H. 305.)

10) Alter der Poesie.

Dass die Poesie älter ist, als die Prosa, indem Pherekydes der erste gewesen, der Philosophie, und Hekatäos von Milet der erste, welcher Geschichte in Prosa geschrieben, und dass dieses von den Alten als eine Denkwürdigkeit angemerkt worden, ist folgendermaßen zu erklären. Ehe man überhaupt schrieb, suchte man aufbehaltenswerte Tatsachen und Gedanken dadurch unverfälscht zu perpetuieren, dass man sie in Verse brachte. Als man nun anfing zu schreiben, war es natürlich, dass man Alles in Versen schrieb. Davon gingen als von einer überflüssig gewordenen Sache jene ersten Prosaiker ab. (P. II, 437.)

11) Unterschied zwischen klassischer und romantischer Poesie.

Der Unterschied zwischen klassischer und romantischer Poesie beruht im Grunde darauf, dass jene keine anderen, als die rein menschlichen, wirklichen und natürlichen Motive kennt, diese hingegen auch erkünstelte, konventionelle und imaginäre Motive als wirksam geltend macht; dahin gehören die aus dem christlichen Mythos stammenden, sodann die des ritterlichen, überspannten und phantastischen Ehrenprinzips, ferner die der abgeschmackten und lächerlichen christlich-germanischen Weiberverehrung, endlich die der faselnden und mondsüchtigen hyperphysischen Verliebtheit. Die klassische Poesie hat eine unbedingte, die romantische nur eine bedingte Wahrheit und Richtigkeit, analog der griechischen und der gotischen Baukunst. (W. II, 490 fg.)
(Über die Poesie der Alten vergl. die Alten.)

12) Nachteil der aus dem Altertum geschöpften Stoffe für die Poesie.

Alle dramatischen oder erzählenden Dichtungen, welche den Schauplatz nach dem alten Griechenland oder Rom versetzen, geraten dadurch in Nachteil, dass unsere Kenntnis des Altertums, besonders was das Detail des Lebens betrifft, unzureichend, fragmentarisch und nicht aus der Anschauung geschöpft ist. Dies nämlich nötigt den Dichter, Vieles zu umgehen und sich mit Allgemeinheiten zu behelfen, wodurch er ins Abstrakte gerät und sein Werk jene Anschaulichkeit und Individualisation einbüßt, welche der Poesie durchaus wesentlich ist. Dies ist es, was allen solchen Werken den eigentümlichen Anstrich von Leerheit und Langweiligkeit gibt. (W. II, 491.)

13) Einfluss des Studiums der Werke der Poesie auf die Menschenkenntnis.

(S. Menschenkenntnis.)