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Schopenhauers Kosmos

 

 Geschichte.

1) Vergleichung der Geschichte mit der Wissenschaft, Philosophie und Poesie.

a) Geschichte und Wissenschaft.

Die Geschichte ist zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft; denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wissenschaft. Die Wissenschaft bringt nämlich das unzählbar Viele, Mannigfaltige und Verschiedene unter Artbegriffe, und diese wieder unter Gattungsbegriffe, wodurch sie den Weg zu einer Erkenntnis des Allgemeinen und Besonderen eröffnet, welche auch das unzählbar Einzelne befasst, indem sie von Allem gilt, ohne dass man Jegliches für sich zu betrachten habe. Der Geschichte hingegen fehlt diese Subordination des Gewussten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat. Daher gibt es kein System der Geschichte, wie doch jeder anderen Wissenschaft. Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des Allgemeinen, sondern muss das Einzelne unmittelbar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen; während die wirklichen Wissenschaften darüber schweben. Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Die Wissenschaften reden sämtlich von Dem, was immer ist; die Geschichte hingegen von Dem, was nur ein Mal und dann nicht mehr ist. Das Allgemeine in der Geschichte besteht bloß in der Übersicht der Hauptperioden, aus denen aber die besonderen Begebenheiten sich nicht ableiten lassen und ihnen nur der Zeit nach subordiniert, dem Begriff nach koordiniert sind. Zu dem Allgemeinen in der Geschichte, den Zeitabschnitten, oder Hauptbegebenheiten, verhält sich das Besondere, wie der Teil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel; wie dies hingegen in allen eigentlichen Wissenschaften Statt hat, weil sie Begriffe, nicht bloße Tatsachen überliefern. (W. I, 75; II, 500 fg.) Die Geschichte ist für die Zeit, was die Geographie für den Raum, und ist daher so wenig, wie diese, eine eigentliche Wissenschaft. (P. II, 479.) Wie in der gesellschaftlichen Konversation, wie sie in der Welt gang und gäbe ist, so sehen wir auch in der Geschichte den Geist mit dem ganz Einzelnen, als solchem, beschäftigt. Wie in der Wissenschaft, erhebt er sich auch in jedem edleren Gespräch zum Allgemeinen. (P. II, 479.)

b) Geschichte und Philosophie.

Sofern die Geschichte eigentlich immer nur das Einzelne, die individuelle Tatsache zum Gegenstande hat und dieses als das ausschließlich Reale ansieht, ist sie das gerade Gegenteil und Widerspiel der Philosophie, als welche die Dinge vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine, in allem Einzelnen identisch Bleibende zum Gegenstande hat. Während die Geschichte uns lehrt, dass zu jeder Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, dass zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und sein wird. Die Geschichte hofft die Tiefe, nach welcher die Philosophie strebt, durch die Länge und Breite zu ersetzen; ihr ist jede Gegenwart nur ein der Ergänzung bedürftiges Bruchstück, während die Philosophie in jeder Gegenwart das ganze Wesen des Lebens erfasst. Hierauf beruht das Widerspiel zwischen den philosophischen und den historischen Köpfen. (W. II, 502 fg. H. 305 fg. M. 301.)

c) Geschichte und Poesie.

In der Kunst gilt nur die innere Bedeutsamkeit der Handlungen, die Tiefe der Einsicht in die Idee der Menschheit; in der Geschichte hingegen die äußere, die Wichtigkeit der Handlungen in Beziehung auf die Folgen derselben für und in der wirklichen Welt, also nach dem Satze vom Grund. (W. I, 272.) Die Geschichte lehrt uns mehr die Menschen, die Poesie hingegen den Menschen kennen. Die Geschichte verhält sich zur Poesie, wie Porträtmalerei zur Historienmalerei. Jene gibt das im Einzelnen, diese das im Allgemeinen Wahre; jene hat die Wahrheit der Erscheinung, diese die Wahrheit der Idee. Der Dichter stellt mit Wahl und Absicht bedeutende Charaktere in bedeutenden Situationen dar; der Historiker nimmt beide wie sie kommen. Ja, er hat die Begebenheiten und Personen nicht nach ihrer inneren, echten, die Idee ausdrückenden Bedeutsamkeit anzusehen und auszuwählen, sondern nach der äußern, scheinbaren, relativen, in Beziehung auf die Verknüpfung, auf die Folgen wichtigen Bedeutsamkeit. Denn seine Betrachtung geht dem Satz vom Grund nach und ergreift die Erscheinung, deren Form dieser ist. Der Dichter aber fasst die Idee auf, das Wesen der Menschheit außer aller Relation. In der Dichtung ist daher viel mehr echte, innere Wahrheit zu finden, als in der Geschichte. Der Historiker soll die empirische Begebenheit genau wiedergeben, was bei den mangelnden Daten oft unmöglich ist. Die Erkenntnis des Dichters hingegen ist eine halb apriorische; er schöpft aus seinem eigenen Inneren die Idee der Menschheit von irgend einer bestimmten, eben darzustellenden Seite. Wer also die Menschheit ihrem inneren, in allen Erscheinungen und Entwicklungen identischen Wesen, ihrer Idee nach, erkennen will, dem werden die Werke der großen, unsterblichen Dichter ein viel treueres Bild vorhalten, als die Historiker je vermögen. (W. I, 288—291; II, 503.)
(Über den Vorzug der Biographie vor der Geschichte siehe Biographie.)

2) Die Philosophie der Geschichte.

a) Kritik der konstruierenden Geschichtsphilosophie.

Was das durch die Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen oder sie organisch zu konstruieren betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter, die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt haltende Realismus zum Grunde. Da nur das Individuum, nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, unmittelbare Einheit des Bewusstseins hat; so ist die Einheit des Lebenslaufes dieses eine bloße Fiktion. Zudem, wie in der Natur nur die Spezies real, die genera bloße Abstraktionen sind, so sind im Menschengeschlechte nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben bloße Abstraktionen. Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von plattem Optimismus geleitet, auf Eudämonismus hinaus. Sie haben also zweierlei nicht begriffen, erstens, dass die Vielheit nur Erscheinung und die äußeren Vorgänge bloße Konfigurationen der Erscheinungswelt sind, die keine unmittelbare Realität, noch Bedeutung haben, sondern nur mittelbare, durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen; zweitens, dass das Moralische, die Wendung des Willens, der Hauptzweck des Lebens ist, nicht aber das armselige Erdenglück. (W. II, 504 fg. P. I, 219.) Dass Manche die Geschichte zur Philosophie selbst machen wollen, indem sie wähnen, sie könne die Stelle derselben einnehmen, ist lächerlich und abgeschmackt. (P. II, 479. M. 301 fg.)

b) Die wahre Philosophie der Geschichte.

Die wahre Philosophie der Geschichte soll nicht das immer Werdende und nie Seiende betrachten und jenes für das eigentliche Wesen der Dinge halten, sondern Das, was immer ist und nie wird, noch vergeht. Sie soll nicht die zeitlichen Zwecke der Menschen zu ewigen und absoluten erheben und nun ihren Fortschritt durch alle Verwicklungen künstlich und imaginär konstruieren, sondern das Identische in allen Vorgängen, der alten wie der neuen Zeit, des Orients wie des Okzidents, erkennen und trotz aller Verschiedenheit der speziellen Umstände, der Kostüme und der Sitten, überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grundeigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes. (W. II, 506.)
Die Geschichte des Menschengeschlechts, das Gedränge der Begebenheiten, der Wechsel der Zeiten, die vielgestalteten Formen des menschlichen Lebens in verschiedenen Ländern und Jahrhunderten, dieses Alles ist nur die zufällige Form der Erscheinung der Idee, ist der Idee selbst so fremd, unwesentlich und gleichgültig, wie den Wolken die Figuren, die sie darstellen, dem Bach die Gestalt seiner Strudel und Schaumgebilde, dem Eis seine Bäume und Blumen. Wer dieses wohl gefasst hat und den Willen von der Idee, und diese von ihrer Erscheinung zu unterscheiden weiß, dem werden die Weltbegebenheiten nur noch sofern sie die Buchstaben sind, aus denen die Idee des Menschen sich lesen lässt, Bedeutung haben, nicht aber an und für sich. Er wird nicht mit den Leuten glauben, dass die Zeit etwas wirklich Neues und Bedeutsames hervorbringe, dass durch sie oder in ihr etwas schlechthin Reales zum Dasein gelange, oder gar sie selbst als ein Ganzes Anfang und Ende, Plan und Entwicklung habe. (W. I, 215.)

3) Wahrer Wert der Geschichte.

Obgleich die Geschichte keine eigentliche Wissenschaft ist und in Hinsicht auf die Erkenntnis des Wesens der Menschheit der Philosophie und Poesie nachsteht, so ist sie doch nicht ganz wertlos. Es bleibt ihr vielmehr ein eigentümliches Gebiet, auf dem sie ehrenvoll dasteht. Was nämlich die Vernunft dem Individuum, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte, erhebt dasselbe nämlich über die enge unmittelbare Gegenwart, auf die das Tier beschränkt bleibt, erweitert den Blick über die Gegenwart hinaus in Vergangenheit und Zukunft und ermöglicht dadurch ein bewusstes, besonnenes, zusammenhängendes Leben. Die Geschichte ist hiernach anzusehen als die Vernunft, oder das besonnene Bewusstsein des menschlichen Geschlechts und vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte unmittelbar gemeinsamen Selbstbewusstseins, so dass erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Ganzen, zu einer Menschheit wird. Dies ist der wahre Wert der Geschichte. (W. II, 507 fg.)

4) Wesentliche Unvollkommenheiten der Geschichte.

a) Unvollständigkeit.

Man könnte die Geschichte ansehen als eine Fortsetzung der Zoologie; insofern bei den sämtlichen Tieren die Betrachtung der Spezies ausreicht, beim Menschen jedoch, weil er Individualcharakter hat, auch die Individuen, nebst den individuellen Begebenheiten, als Bedingung dazu, kennen zu lernen sind. Hieraus folgt sogleich eine wesentliche Unvollkommenheit der Geschichte, da die Individuen und Begebenheiten zahl- und endlos sind. Beim Studium derselben ist durch Alles, was man davon erlernt hat, die Summe des noch zu Erlernenden durchaus nicht vermindert. Bei allen eigentlichen Wissenschaften ist eine Vollständigkeit des Wissens doch wenigstens abzusehen. (P. II, 480.)

b) Lügenhaftigkeit und Unzuverlässigkeit.

Die Geschichtsmuse Klio ist mit der Lüge so durch und durch infiziert, wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neue, kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kurieren, bewältigt aber mit ihren lokalen Mitteln bloß einzelne, hie und da ausbrechende Symptome; wobei noch dazu manche Quacksalberei mit unterläuft, die das Übel verschlimmert. Die Begebenheiten und Personen in der Geschichte mögen den wirklich dagewesenen ungefähr so gleichen, wie meistens die Porträts der Schriftsteller auf dem Titelkupfer diesen selbst; also eben nur so etwas im Umriss, so dass sie eine schwache, oft durch einen falschen Zug ganz entstellte Ähnlichkeit, bisweilen aber gar keine haben. (P. I, 480 fg.)
Die Geschichte ist zwar um so interessanter, je spezieller sie ist, aber auch um so unzuverlässiger, und nähert sich alsdann in jeder Hinsicht dem Romane. — Was es übrigens mit dem gerühmten Pragmatismus der Geschichte (d. h. dem Ableiten der Begebenheiten nach dem Gesetze der Motivation) auf sich habe, wird Der am besten ermessen können, welcher sich erinnert, dass er bisweilen die Begebenheiten seines eigenen Lebens ihrem wahren Zusammenhang nach erst zwanzig Jahre hinterher verstanden hat, obwohl die Data dazu ihm vollständig vorlagen; so schwierig ist die Kombination des Wirkens der Motive, unter den beständigen Eingriffen des Zufalls und dem Verhehlen der Absichten. (W. I, 217; II, 502.)
Der Historiker soll der individuellen Begebenheit genau nach dem Leben folgen, wie sie an den vielfach verschlungenen Ketten der Gründe und Folgen sich in der Zeit entwickelt; aber unmöglich kann er hierzu alle Data besitzen, Alles gesehen, oder Alles erkundet haben; er wird jeden Augenblick vom Original seines Bildes verlassen, oder ein falsches schiebt sich ihm unter, und dies so häufig, dass man Ursache hat anzunehmen, in aller Geschichte sei des Falschen mehr, als des Wahren. (W. I, 289.)
Fontenelle nennt die Geschichte eine fable convenue. (P. I, 206.)

5) Gegensatz zwischen der politischen und der Literaturgeschichte.

Es gibt zwei Geschichten: die politische und die der Literatur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend; die andere hingegen ist überall erfreulich und heiter, wie der isolierte Intellekt, selbst wo sie Irrwege schildert. Ihr Hauptzweig ist die Geschichte der Philosophie. Eigentlich ist diese ihr Grundbass, der sogar in die andere Geschichte hinüber tönt und auch dort aus dem Fundament die Meinung leitet. Die Meinung aber beherrscht die Welt. (P. II, 598.)

6) Gegensatz zwischen der Weltgeschichte und der Geschichte der Heiligen.

Die Weltgeschichte schweigt zwar von den Heiligen, den Helden der Verneinung des Willens zum Leben; denn der Stoff der Weltgeschichte ist ein ganz anderer, ja entgegengesetzter, nämlich nicht das Verneinen und Aufgeben des Willens zum Leben, sondern sein Bejahen und Erscheinen in unzähligen Individuen, in welchen seine Entzweiung mit sich selbst, auf dem höchsten Gipfel seiner Objektivation, mit vollendeter Deutlichkeit hervortritt und nun uns bald die Überlegenheit des Einzelnen durch seine Klugheit, bald die Gewalt der Menge durch ihre Masse, bald die Macht des sich zum Schicksal personifizierenden Zufalls, immer die Vergeblichkeit und Nichtigkeit des ganzen Strebens vor Augen bringt. Für den Philosophen aber, der die ethische Bedeutung der Handlungen zum Maßstab nimmt, ist die größte, wichtigste und bedeutsamste Erscheinung, welche die Welt aufzeigen kann, nicht der Welteroberer, sondern der Weltüberwinder. Für ihn sind also die Lebensbeschreibungen heiliger, sich selbst verleugnender Menschen, so schlecht sie auch meistens geschrieben, ja mit Aberglauben und Unsinn vermischt vorgetragen sind, doch durch die Bedeutsamkeit des Stoffes ungleich belehrender und wichtiger, als selbst Plutarchos und Livius. (W. I, 455 fg. M. 301.)