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Schopenhauers Kosmos

 

 Verstand.

1) Funktion des Verstandes.

Kausalität erkennen ist die einzige Funktion des Verstandes, seine alleinige Kraft, und es ist eine große, Vieles umfassende, von mannigfaltiger Anwendung, doch unverkennbarer Identität aller ihrer Äußerungen. (W. I, 13. G. 52 fg. E. 27. 149.) Die erste, einfachste und wichtigste ihrer Äußerungen ist die Anschauung der wirklichen Welt. Die empirischen, zum gesetzmäßigen Komplex der Realität gehörigen Vorstellungen erscheinen in Raum und Zeit zugleich, und sogar ist eine innige Vereinigung beider die Bedingung der Realität, welche aus ihnen gewissermaßen wie ein Produkt aus seinen Faktoren erwächst. Was nun diese Vereinigung schafft ist der Verstand, der, mittelst seiner, ihm eigentümlichen Funktion jene heterogenen Formen der Sinnlichkeit verbindet, so dass aus ihrer wechselseitigen Durchdringung, wiewohl eben auch nur für ihn selbst, die empirische Realität hervorgeht, als eine Gesamtvorstellung. (G. 29 fg.)

2) Identität des Wesens des Verstandes bei Verschiedenheit der Grade desselben.

Der Verstand ist in allen Tieren und allen Menschen der nämliche, hat überall dieselbe einfache Form: Erkenntnis der Kausalität, Übergang von Wirkung aus Ursache und von Ursache auf Wirkung, und nichts außerdem. Aber die Grade seiner Schärfe und die Ausdehnung seiner Erkenntnissphäre sind höchst verschieden, mannigfaltig und vielfach abgestuft. (W. I, 24 fg. N. 74.) Wie bei den Menschen die Grade der Schärfe des Verstandes sehr verschieden sind, so sind sie zwischen den verschiedenen Tiergattungen es wohl noch mehr. An den allerklügsten Tieren können wir ziemlich genau abmessen, wie viel der Verstand ohne Beihilfe der Vernunft vermag; an uns selbst können wir Dieses nicht so erkennen, weil Verstand und Vernunft sich da immer wechselseitig unterstützen. Wir müssen indessen bei Beurteilung des Verstandes der Tiere uns hüten, nicht ihm zuzuschreiben, was Äußerung des Instinkts ist. (W. I, 27 fg.)

3) Warum die Sensibilität überall von Verstand begleitet ist.

(S. Sensibilität.

4) Unabhängigkeit des Verstandes von der Vernunft.

Alle Tiere haben Verstand, selbst die unvollkommensten; denn sie alle erkennen Objekte, und diese Erkenntnis bestimmt als Motiv ihre Bewegungen. (W. I, 24.) Sie haben Verstand, ohne Vernunft zu haben; sie apprehendieren richtig, fassen auch den unmittelbaren Kausalzusammenhang auf, die oberen Tiere selbst durch mehrere Glieder seiner Kette; jedoch denken sie eigentlich nicht. (W. II, 62. E. 34. E. 17 fg. — Vergl. Tier.)
Der Verstand ist von der Vernunft, als einem beim Menschen allein hinzugekommenen Erkenntnisvermögen, völlig und scharf geschieden, und allerdings an sich auch im Menschen unvernünftig. Die Vernunft kann immer nur wissen; dem Verstand allein und frei von ihrem Einfluss bleibt das Anschauen. (W. I, 29 fg.) Das durch Vernunft richtig Erkannte ist Wahrheit, das durch den Verstand richtig Erkannte ist Realität. Der Wahrheit steht der Irrtum als Trug der Vernunft, der Realität der Schein als Trug des Verstandes gegenüber. Wegen dieser gänzlichen Verschiedenheit der Operation der Vernunft und der des Verstandes sind alle täuschenden Scheine durch kein Räsonnement der Vernunft wegzubringen. (W. I, 28 fg. F. 15 fg. Vergl. Irrtum.)

5) Gegen den Missbrauch des Wortes Verstand.

Jederzeit und überall hat man als Verstand, intellectus, acumen, perspicacia, sagacitas u. s. w. das im Erkennen der Kausalität bestehende unmittelbare, intuitive Vermögen bezeichnet und die aus ihm entspringenden, von den vernünftigen spezifisch verschiedenen Leistungen verständig, klug, fein u. s. w. genannt, demnach verständig und vernünftig stets vollkommen unterschieden als Äußerungen zweier gänzlich und weit verschiedener Geistestätigkeiten. Allein die Philosophieprofessoren haben sich hieran nicht gekehrt; sie haben es geraten gefunden, dem Vermögen der Begriffe seinen bisherigen Namen Vernunft zu entziehen und es wider allen Sprachgebrauch und alles gesunden Takt Verstand, und ebenso alles aus demselben Fließende verständig, statt vernünftig, zu nennen, welches dann allemal quer und ungeschickt, ja wie ein falscher Ton herauskommen musste. (G. 111. 40. W. II, 73.)
Es ist nicht zufällig, dass die Vernunft sowohl in den lateinischen, wie in den germanischen Sprachen als weiblich auftritt, der Verstand hingegen als männlich. (G. 116. Vergl. Vernunft.)

6) Das Gesicht als der Sinn des Verstandes.

(S. unter Sinne: Gegensatz zwischen Gesicht und Gehör.)

7) Verhältnis des Verstandes zur Materie.

(S. unter Materie: Die reine Materie und ihre apriorischen Bestimmungen.)

8) Die Verstandeserkenntnis, ihre Mängel und ihre Vorzüge.

(S. Anschauung.)

9) Überlegenheit und Schärfe des Verstandes.

(S. Klugheit.)

10) Mangel an Verstand.

(S. Dummheit.)

11) Gegensatz zwischen dem Gelehrten und dem Mann von natürlichem Verstand.

(S. Gelehrsamkeit.)

12) Der sogenannte gesunde Verstand.

Der sogenannte gesunde, d. h. rohe Verstand, ist in philosophischen Fragen nicht nur inkompetent, sondern hat sogar einen entschiedenen Hang zum Irrtum, von welchem ihn zurückzubringen es der Philosophie bedarf. An ihn darf daher in der Philosophie nicht appelliert werden. (P. I, 28. W. II, 17. E. 92.)

13) Die Quantität des Verstandes.

Der Verstand ist keine extensive, sondern eine intensive Größe; daher kann hierin Einer es getrost gegen Zehntausend aufnehmen, und gibt eine Versammlung von tausend Dummköpfen noch keinen gescheuten Mann. (P. II, 66.)