3) Quelle der Menschenliebe.
In der unmittelbaren, auf keine Argumentation gestützten, noch deren
bedürfenden Teilnahme liegt der allein lautere Ursprung der Menschenliebe,
der
caritas,
αγαπη, also derjenigen Tugend, deren Maxime ist:
omnes, quantum potes, juva, und aus welcher alles Das fließt, was
die Ethik unter dem Namen Tugendpflichten, Liebespflichten, unvollkommene
Pflichten vorschreibt. Diese ganz unmittelbare, ja, instinktartige
Teilnahme am fremden Leiden, also das Mitleid, ist die
alleinige Quelle solcher Handlungen, wenn sie moralischen Wert
haben, d. h. von allen egoistischen Motiven rein sein sollen. (
E. 227
—229. — Vergl. auch
Liebe.) Diese unmittelbare Teilnahme setzt
voraus, dass ich mich mit dem Anderen gewissermaßen identifiziert habe,
und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich für den Augenblick
aufgehoben sei. Dieser Vorgang ist mysteriös. (
E. 229.) Wer
von der Tugend der Menschenliebe beseelt ist, hat sein eigenes Wesen
in jedem Anderen wiedererkannt. Er durchschaut das
principium individuationis.
(
W. II, 694. — Vergl. auch unter
Gut: Wesen des
guten Menschen, an sich selbst betrachtet, und unter
Individuation:
die im
principio individuationis befangene Erkenntnis im Gegensatze
zu der es durchschauenden.)
4) Geschichtliches.
Die Tugend der Menschenliebe fehlt bei Aristoteles, wie bei allen
Alten. (
E. 251.) Die Philosophen des Altertums haben zwar die
Gerechtigkeit als Kardinaltugend anerkannt; hingegen haben sie die
Menschenliebe noch nicht als Tugend aufgestellt. Selbst der zu der
Moral sich am höchsten erhebende Plato gelangt doch nur bis zur
freiwilligen, uneigennützigen Gerechtigkeit. Erst das Christentum hat
die Menschenliebe förmlich als Tugend, und zwar als die größte von
allen, aufgestellt, sogar auch auf die Feinde ausgedehnt. Hierin besteht
das größte Verdienst des Christentums, wiewohl nur hinsichtlich
auf Europa; da in Asien schon tausend Jahre früher die unbegrenzte
Liebe des Nächsten gelehrt und geübt worden. — Spuren der Anerkennung
der Menschenliebe lassen sich übrigens auch bei den Alten
finden. (
E. 226.)