Kardinaltugenden.
l) Die beiden Kardinaltugenden.
Die Tugend der Gerechtigkeit und die der Menschenliebe sind die beiden Kardinaltugenden, weil aus ihnen alle übrigen praktisch hervorgehen und theoretisch sich ableiten lassen. Beide wurzeln in dem natürlichen Mitleid. (E. 213. 230. Vergl. unter Moralisch: Die moralische Triebfeder.)2) Die Kardinaltugenden bei den alten Philosophen.
Die Gerechtigkeit haben auch die Philosophen des Altertums als Kardinaltugend anerkannt, jedoch ihr drei andere unpassend gewählte koordiniert. Hingegen haben sie die Menschenliebe noch nicht als Tugend aufgestellt. Selbst Plato gelangt nur bis zur freiwilligen uneigennützigen Gerechtigkeit. (E. 226.) Vergleicht man mit den tiefgefassten orientalischen Grundbegriffen der Ethik die so berühmten und viele tausend Mal wiederholten Platonischen Kardinaltugenden, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Weisheit; so findet man sie ohne einen deutlichen, leitenden Grundbegriff und daher oberflächlich gewählt, zum Teil sogar offenbar falsch. Tugenden müssen Eigenschaften des Willens sein; Weisheit aber gehört zunächst dem Intellekt an. Die σοφροσυνη, Mäßigkeit, ist ein gar unbestimmter und vieldeutiger Ausdruck. Tapferkeit ist gar keine Tugend, wiewohl bisweilen ein Diener oder Werkzeug derselben; aber sie ist auch eben so bereit der größten Nichtswürdigkeit zu dienen; eigentlich ist sie eine Temperamentseigenschaft. (P. II, 217 fg.)3) Die Kardinaltugenden des Christentums.
Das Christentum hat nicht Kardinal-, sondern Theologal-Tugenden: Glaube, Liebe und Hoffnung. (P. II, 218.)4) Die Kardinaltugenden der Buddhisten und der Chinesen.
Die Buddhisten gehen in Folge ihrer tieferen ethischen und metaphysischen Einsichten nicht von Kardinaltugenden, sondern von Kardinallastern aus, als deren Gegensätze, oder Verneinungen, allererst die Kardinaltugenden auftreten, nämlich: Keuschheit (als Gegensatz der Wollust), Freigebigkeit (als Gegensatz des Geizes), Milde und Demut (als Gegensatz des Zornes und Hochmuts). (P. II, 217.)
Die Chinesen nennen fünf Kardinaltugenden: Mitleid, Gerechtigkeit,
Höflichkeit, Weisheit und Aufrichtigkeit, unter welchen das Mitleid
obenansteht. (P. II, 218. E. 248.)