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Schopenhauers Kosmos

 

 Wahnsinn.

1) Wesen des Wahnsinns.

Weder Vernunft, noch Verstand kann den Wahnsinnigen abgesprochen werden; denn sie reden und vernehmen, sie schließen oft sehr richtig, auch schauen sie in der Regel das Gegenwärtige ganz richtig an und sehen den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ein. Visionen, gleich Fieberphantasien, sind kein gewöhnliches Symptom des Wahnsinns; das Delirium verfälscht die Anschauung, der Wahnsinn die Gedanken. Meistens nämlich irren die Wahnsinnigen durchaus nicht in der Kenntnis des unmittelbar Gegenwärtigen, sondern ihr Irrereden bezieht sich immer auf das Abwesende und Vergangene, und nur dadurch auf dessen Verbindung mit dem Gegenwärtigen. Daher nun scheint ihre Krankheit besonders das Gedächtnis zu treffen, indem der Faden des Gedächtnisses zerrissen, der fortlaufende Zusammenhang desselben aufgehoben ist. Einzelne Szenen der Vergangenheit stehen richtig da; aber in ihrer Rückerinnerung sind Lücken, welche sie dann mit Fiktionen ausfüllen, die entweder, stets die selben, zu fixen Ideen werden (fixer Wahn, Melancholie), oder jedesmal andere sind, augenblickliche Einfälle (Narrheit, fatuitas). Erreicht der Wahnsinn einen hohen Grad, so entsteht völlige Gedächtnislosigkeit. (W. I, 28. 226 fg. II, 454 fg.)

2) Ähnlichkeit des Traums mit dem Wahnsinn.

(S. Traum.)

3) Kriterium zwischen Geistesgesundheit und Verrücktheit.

Die eigentliche Gesundheit des Geistes besteht in der vollkommenen Rückerinnerung. Das Gedächtnis eines Gesunden gewährt über einen Vorgang, dessen Zeuge er gewesen, eine Gewissheit, welche als eben so fest und sicher angesehen wird, wie seine gegenwärtige Wahrnehmung einer Sache; daher derselbe, wenn von ihm beschworen, vor Gericht dadurch festgestellt wird. Hingegen wird der bloße Verdacht des Wahnsinns die Aussage eines Zeugen sofort entkräften. Hier also liegt das Kriterium zwischen Geistesgesundheit und Verrücktheit. (W. II, 454 fg.)

4) Verwandtschaft und Unterschied zwischen der Erkenntnis des Wahnsinnigen und der des Tieres.

Die Erkenntnis des Wahnsinnigen hat mit der des Tieres dies gemein, dass beide auf das Gegenwärtige beschränkt sind; aber was sie unterscheidet ist dieses: das Tier hat eigentlich gar keine Vorstellung von der Vergangenheit als solcher; der Wahnsinnige dagegen trägt in seiner Vernunft auch immer eine Vergangenheit in abstrakto herum, aber eine falsche, deren Einfluss nun auch den Gebrauch der richtig erkannten Gegenwart verhindert, den doch das Tier macht. (W. I, 227.) Wegen Mangels der Vernunft werden Tiere nicht wahnsinnig, wiewohl die Fleischfresser der Wut, die Grasfresser einer Art Raserei ausgesetzt sind. (W. II, 75.)

5) Verwandtschaft zwischen Genialität und Wahnsinn.

(S. unter Genie: Die geniale Erkenntnisweise.)

6) Erklärung der Häufigkeit des Wahnsinns bei Schauspielern.

(S. Schauspieler.)

7) Ursprung des Wahnsinns.

Dass heftiges geistiges Leiden, unerwartete entsetzliche Begebenheiten häufig Wahnsinn veranlassen, ist so zu erklären: Jedes solches Leiden ist immer als wirkliche Begebenheit auf die Gegenwart beschränkt, also nur vorübergehend und insofern nicht übermäßig schwer; überschwänglich groß wird es erst, sofern es bleibender Schmerz ist; aber als solcher ist es wieder allein ein Gedanke und liegt daher im Gedächtnis. Wird nun ein solcher Kummer, ein solches schmerzliches Andenken so qualvoll, dass es schlechterdings unerträglich fällt, dann greift die geängstigte Natur zum Wahnsinn als zum letzten Rettungsmittel des Lebens. (W. I, 227 fg.) In dem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Man kann also den Ursprung des Wahnsinns ansehen als ein gewaltsames Sich aus dem Sinn schlagen irgend einer Sache, welches jedoch nur möglich ist mittelst des Sich in den Kopf setzen einer andern. Seltener findet der umgekehrte Hergang statt. (W. II. 455—457.)
Öfter jedoch, als den angegebenen psychischen, hat der Wahnsinn einen rein somatischen Ursprung, beruht auf Missbildungen, oder partiellen Desorganisationen des Gehirns, oder auf dem Einfluss, den andere krankhaft affizierte Teile auf das Gehirn haben. Jedoch werden beide Ursachen des Wahnsinns meistens von einander partizipieren, zumal die psychischen von der somatischen. (W. II, 457 fg.)

8) Ein Analogon des Überganges vom Schmerz zum Wahnsinn.

Ein schwaches Analogon des Übergangs vom qualvollen Schmerz zum Wahnsinn ist dieses, dass wir Alle oft ein peinigendes Andenken, das uns plötzlich einfällt, wie mechanisch, durch eine laute Äußerung oder Bewegung zu verscheuchen, uns selbst davon abzulenken, mit Gewalt uns zu zerstreuen suchen. (W. I, 228.)

9) Die Raserei.

Der Zustand der Raserei ohne Verrücktheit (mania sine delirio) ist daraus zu erklären, dass hier der Wille sich der Herrschaft und Leitung des Intellekts und mithin der Motive periodisch ganz entzieht, wodurch er dann als blinde, ungestüme, zerstörende Naturkraft auftritt und demnach sich äußert als die Sucht, Alles, was ihm in den Weg kommt, zu vernichten. Jedoch wird bloß die Vernunft, also reflektive Erkenntnis, von jener Suspension getroffen, nicht auch die intuitive; vielmehr nimmt der Rasende die Objekte wahr, da er auf sie losbricht. Aber er ist ohne alle Leitung durch die Vernunft. (W. II, 458.)

10) Aufhebung der Intellektuellen Freiheit durch den Wahnsinn und Unstrafbarkeit des Wahnsinnigen.

Die Intellektuelle Freiheit ist durch den Wahnsinn aufgehoben. (S. unter Freiheit: Die Intellektuelle Freiheit.) Die im Wahnsinn begangenen Verbrechen sind daher auch nicht gesetzlich strafbar. (E. 99.)
Es fragt sich: Wenn ein Delinquent nach der Untersuchung wahnsinnig wird, ist er dann für den Mord, den er im gesunden Zustande begangen hat, hinzurichten? — Gewiss nicht. (H. 377.)

11) Ob die Wahnsinnigen unglücklich sind.

Es gehört zu den von Unzähligen nachgesprochenen Irrtümern, dass die Wahnsinnigen überaus unglücklich seien. (P. II, 64.)