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Schopenhauers Kosmos

 

 Urteilskraft.

1) Wesen der Urteilskraft.

Die Urteilskraft besteht in dem Vermögen, das anschaulich Erkannte richtig und genau ins abstrakte Bewusstsein zu übertragen; sie ist demnach die Vermittlerin zwischen Verstand und Vernunft. Das anschaulich Erkannte in angemessene Begriffe für die Reflexion absetzen und fixieren, so dass einerseits das Gemeinsame vieler realen Objekte durch einen Begriff, andererseits ihr Verschiedenes durch eben so viele Begriffe gedacht wird, und also das Verschiedene trotz einer teilweisen Übereinstimmung doch als verschieden, dann aber wieder das Identische trotz einer teilweisen Verschiedenheit doch als identisch erkannt und gedacht wird, — dies Alles tut die Urteilskraft. (W. I, 77. 680. G. 103.)
Die Urteilskraft ist zwar auch auf dem Gebiete des abstrakten Erkennens tätig, wo sie Begriffe nur mit Begriffen vergleicht; daher ist jedes Urteil, im logischen Sinne dieses Worts, allerdings ein Werk der Urteilskraft, indem dabei allemal ein engerer Begriff einem weiteren subsumiert wird. Jedoch ist diese Tätigkeit der Urteilskraft, wo sie bloße Begriffe mit einander vergleicht, eine geringere und leichtere, als wo sie den Übergang vom ganz Einzelnen, dem Anschaulichen, zum wesentlich Allgemeinen, dem Begriff, macht. Ihre Tätigkeit im engeren Sinne tritt erst da ein, wo das anschaulich Erkannte, also das Reale, die Erfahrung, in das deutliche, abstrakte Erkennen übertragen, unter genau entsprechende Begriffe subsumiert und so in das reflektierte Wissen abgesetzt werden soll. (W. II, 96 fg H. 38.)

2) Einteilung der Urteilskraft.

Die Urteilskraft zerfällt in die reflektierende und subsumierende, je nachdem sie nämlich von den anschaulichen Objekten zum Begriff, oder von diesem zu jenen übergeht, in beiden Fällen immer vermittelnd zwischen der anschaulichen Erkenntnis des Verstandes und der reflektiven der Vernunft. (W. I, 77.) Die Urteilskraft sucht entweder zum gegebenen anschaulichen Fall den Begriff, oder die Regel, unter die er gehört; oder aber zum gegebenen Begriff, oder Regel, den Fall, der sie belegt. Im ersteren Falle ist sie reflektierende, im anderen subsumierende. (G. 103.)

3) Zwei besondere Äußerungen der Urteilskraft.

Besondere Äußerungen der Urteilskraft sind Witz und Scharfsinn; in jenem ist sie reflektierend, in diesem subsumierend tätig. (W. II, 98, S. unter Lächerlich: Witz.)

4) Wichtigkeit der Urteilskraft.

Die Urteilskraft ist das Vermögen, welches die festen Grundlagen aller Wissenschaften aufzustellen hat. Nicht weniger hat die Urteilskraft im praktischen Leben, bei allen Grundbeschlüssen und Hauptentscheidungen, den Ausschlag zu geben; wie denn der richterliche Ausspruch in der Hauptsache ihr Werk ist. (W. II, 97.)

5) Seltenheit der Urteilskraft.

Bei den meisten Menschen ist die Urteilskraft nur rudimentär, oft sogar nur nominell vorhanden; sie sind bestimmt, von Anderen geleitet zu werden. Man soll mit ihnen nicht mehr reden, als nötig ist. (G. 103.) Es ist eine Art Ironie, dass man die Urteilskraft den normalen Geisteskräften beizählt, statt sie allein den monstris per excessum zuzuschreiben. Die gewöhnlichen Köpfe zeigen selbst in den kleinsten Angelegenheiten Mangel an Zutrauen zu ihrem eigenen Urteil; eben weil sie aus Erfahrung wissen, dass es keines verdient. Seine Stelle nimmt bei ihnen Vorurteil und Nachurteil ein, wodurch sie in einem Zustand fortdauernder Unmündigkeit erhalten werden. (W. II, 98. P. II, 24. 486. 488. H. 37 fg. Vergl. unter Schließen: Die Fähigkeit des Schließens verglichen mit der des Urteilens.)
Der beklagenswerte Mangel an Urteilskraft zeigt sich auch in den Wissenschaften, nämlich am zähen Leben falscher und widerlegter Theorien. (P. II, 490 fg.) Ferner zeigt er sich darin, dass in jedem Jahrhundert zwar das Vortreffliche der früheren Zeit verehrt, das der eigenen aber verkannt und die diesem gebührende Aufmerksamkeit schlechten Machwerken geschenkt wird. (P. II, 491.)
(Warum jedoch das einstimmige Urteil des Publikums nicht zu verachten ist, darüber s. unter Publikum: Wert der Meinung des Publikums.)

6) Mangel der Urteilskraft.

Mangel der Urteilskraft ist Einfalt. Der Einfältige verkennt bald die teilweise oder relative Verschiedenheit des in einer Rücksicht Identischen, bald die Identität des relativ oder teilweise Verschiedenen. (W. I, 28. 77.)
Vorübergehender Mangel der Urteilskraft tritt ein in der Abspannung des Geistes, besonders im Traum. — Des Nachts im Bette ist der Geist völlig abgespannt und daher die Urteilskraft ihrem Geschäfte nicht mehr gewachsen. (P. I, 462.) Der Traum und unser Benehmen in demselben zeigt außerordentlichen Mangel an Urteilskraft. (P. I, 253. Vergl. unter Traum: Ähnlichkeit des Traums mit dem Wahnsinn.)

7) Der innere Feind der Urteilskraft.

Die Urteilskraft hat einen positiven Feind im Innern, am eigenen Willen des Menschen, an der Neigung. Immer ist der Wille der heimliche Gegner des Intellekts; daher heißt reiner Verstand, reine Vernunft, ein solcher, der frei ist von allem Einfluss des Willens, d. i. der Neigung, und daher bloß seinen eigenen Gesetzen folgt. (H. 40 fg.)
Liebe und Hass verfälschen unser Urteil gänzlich. Eine ähnliche geheime Macht übt unser Vorteil über unser Urteil aus. Daher so viele Vorurteile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Religion. (W. II, 244. Vergl. unter Intellekt: Sekundäre Natur des Intellekts.)

8) Vorzüge des mit feiner Urteilskraft ausgestatteten Kopfes.

Ein glücklich organisierter, folglich mit feiner Urteilskraft ausgestatteter Kopf hat zwei Vorzüge. Erstlich diesen, dass von Allem, was er sieht, erfährt und liest, das Wichtige und Bedeutsame bei ihm ansetzt und von selbst sich seinem Gedächtnisse einprägt, um einst hervorzukommen, wenn es gebraucht wird; während die übrige Masse wieder abfließt. Der zweite, dem ersteren verwandte Vorzug eines solchen Geistes ist, dass ihm jedes Mal das zu einer Sache Gehörige, ihr Analoge, oder sonst Verwandte, läge es auch noch so fern, zur rechten Zeit einfällt. Dies beruht darauf, dass er an den Dingen das eigentlich Wesentliche auffasst, wodurch er, auch in den sonst verschiedensten, das Identische und Zusammengehörige sogleich erkennt. (P. II, 66.)