Mathematik.
1) Wissenschaftlichkeit der Mathematik.
Die systematische Form ist ein wesentliches und charakteristisches Merkmal der Wissenschaft. Obzwar nun in der Mathematik, da die Euklidische Behandlung ihr nicht wesentlich ist, jeder Lehrsatz eine neue räumliche Konstruktion anhebt, die an sich von den vorherigen unabhängig ist und eigentlich auch völlig unabhängig von ihnen erkannt werden kann, aus sich selbst, in der reinen Anschauung des Raumes, in welcher auch die verwickelteste Konstruktion eigentlich so unmittelbar evident ist, wie das Axiom; so bleibt doch immer jeder mathematische Satz eine allgemeine Wahrheit, welche für unzählige einzelne Fälle gilt, auch ist ein stufenweiser Gang von den einfachen Sätzen zu den komplizierten, welche auf jene zurückzuführen sind, ihr wesentlich. Folglich ist die Mathematik in jeder Hinsicht Wissenschaft. (W. I, 74 fg.)
(Über Arithmetik und Geometrie siehe diese Artikel.)
2) Worauf die Unfehlbarkeit und Klarheit der Mathematik beruht.
Auf der von Kant entdeckten Beschaffenheit der allgemeinen Form der Anschauung (Raum und Zeit), dass sie nämlich für sich und unabhängig von der Erfahrung anschaulich und ihrer ganzen Gesetzmäßigkeit nach erkennbar sind, beruht die Unfehlbarkeit der Mathematik. (W. I, 8.) Apodiktische Gewissheit ist allein durch Erkenntnis a priori möglich, bleibt also das Eigentum der Logik und Mathematik. Diese Wissenschaften lehren aber auch eigentlich nur Das, was Jeder schon von selbst, nur nicht deutlich weiß. (W. II, 201 fg.)
Die vollkommene Sicherheit der Wissenschaften a priori, also der
Logik und Mathematik, beruht hauptsächlich darauf, dass in ihnen uns
der Weg vom Grunde auf die Folge offen steht, der allemal sicher ist.
(W. II, 98.)
Nur in den auf apriorischer Erkenntnis beruhenden Wissenschaften,
also in der gesamten reinen Mathematik und reinen Naturwissenschaft
a priori ist keine Dunkelheit; sie stoßen nicht auf das Unergründliche
(Grundlose, d. i. Wille), weil sie es bloß mit den uns a priori
bewussten Formen aller Erscheinung, die sich gemeinschaftlich als
Satz vom Grunde aussprechen lassen, zu tun haben. Andererseits
aber zeigen uns diese Erkenntnisse weiter nichts, als bloße Verhältnisse,
Relationen einer Vorstellung zur andern, Form, ohne allen Inhalt.
(W. I, 143 fg.)
In der Mathematik schlägt der Kopf sich mit seinen eigenen Erkenntnisformen,
Zeit und Raum, herum, — gleicht daher der Katze,
die mit ihrem eigenen Schwanz spielt. (H. 329.)
3) Gegensatz der mathematischen und genialen Erkenntnisweise.
Die geniale Erkenntnis, oder Erkenntnis der Idee, ist diejenige, welche dem Satz vom Grunde nicht folgt. (Vergl. unter Genie: die geniale Erkenntnisweise.) Hingegen ist die mathematische Erkenntnisweise die dem Satz vom Grunde in der Gestalt des Seinsgrundes nachgehende. (Vergl. unter Grund: Grund des Seins.) Hieraus erklärt sich einerseits die Abneigung genialer Individuen gegen die Mathematik im Allgemeinen und gegen die logische, die eigentliche Einsicht verschließende Behandlungsart derselben im Besonderen, andererseits die geringe Empfänglichkeit ausgezeichneter Mathematiker für die Werke der schönen Kunst. (W. I, 222 fg.)4) Methode der Mathematik.
Um die Methode der Mathematik zu verbessern, wird vorzüglich erfordert, dass man das Vorurteil aufgebe, die bewiesene Wahrheit habe irgend einen Vorzug vor der anschaulich erkannten, oder die logische, auf dem Satz vom Widerspruch beruhende, vor der metaphysischen, welche unmittelbar evident ist und zu der auch die reine Anschauung des Raumes gehört. (W. I, 87.)
(Über die Verkehrtheit der Euklidischen Methode siehe: Geometrie.)
5) Unterschied der mathematischen von der logischen Unmöglichkeit.
Ein rechtwinkliger gleichseitiger Triangelenthält keinen logischen Widerspruch; denn die Prädikate heben einzeln keineswegs das Subjekt auf, noch sind sie mit einander unvereinbar. Erst bei der Konstruktion ihres Gegenstandes in der reinen Anschauung tritt ihre Unvereinbarkeit an ihm hervor. Wollte man diese aber deshalb für einen Widerspruch halten; so wäre auch jede physische und erst nach Jahrhunderten entdeckte Unmöglichkeit ein solcher. Allein bloß die logische Unmöglichkeit ist ein Widerspruch, nicht aber die physische, und ebenso wenig die mathematische. Gleichseitig und rechtwinklig widersprechen einander nicht (im Quadrat sind sie beisammen), noch widerspricht jedes von ihnen dem Dreieck. Daher kann die Unvereinbarkeit obiger Begriffe nie durch bloßes Denken erkannt werden, sondern ergibt sich erst aus der Anschauung, welche nun aber eine solche ist, zu der es keiner Erfahrung, keines realen Gegenstandes bedarf, eine bloß mentale. (W. II, 38.)
6) Wert der Mathematik.
Als Untersuchung des Einflusses der Mathematik auf unsere Geisteskräfte und ihres Nutzens für wissenschaftliche Bildung überhaupt ist Hamiltons sehr gründliche und kenntnisreiche AbhandlungÜber den Wert und Unwert der Mathematikzu empfehlen. Das Ergebnis derselben ist, dass der Wert der Mathematik nur ein mittelbarer sei, nämlich in der Anwendung zu Zwecken, welche allein durch sie erreichbar sind, liege; an sich aber lasse die Mathematik den Geist da, wo sie ihn gefunden hat, und sei der allgemeinen Ausbildung und Entwicklung desselben keineswegs förderlich, ja sogar entschieden hinderlich. Der einzige unmittelbare Nutzen, welcher der Mathematik gelassen wird, ist, dass sie unstete und flatterhafte Köpfe gewöhnen kann, ihre Aufmerksamkeit zu fixieren. — Sogar Cartesius, der doch selbst als Mathematiker berühmt war, urteilte eben so über die Mathematik. (W. II, 144 fg.) Lichtenberg macht sich über den
mathematischen Tiefsinnlustig. (P. II, 52.)
Sie hören nicht auf, die Zuverlässigkeit und Gewissheit der Mathematik
zu rühmen. Aber was hilft es mir, noch so gewiss und zuverlässig
etwas zu wissen, daran mir gar nichts gelegen ist — das
ποσον. (H. 329. — Vergl. auch unter Arithmetik: Untergeordneter
Rang der arithmetischen Geistestätigkeit.)