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Schopenhauers Kosmos

 

 Lüge.

1) Ursprung und Zweck der Lüge.

Es gibt zwei Arten der Ausübung des Unrechts, Gewalt und List. (Vergl. Gewalt.) Die Lüge gehört zur Letzteren. Von der Ausübung des Unrechts durch Gewalt unterscheidet nämlich die durch List sich dadurch, dass während jene sich der physischen Kausalität bedient, diese die geistige Kausalität, d. i. die durch das Erkennen durchgegangene Kausalität, die Motivation (vergl. über diese unter Grund: Satz vom Grund des Handelns) anwendet, indem sie dem fremden Individuum, das sie zwingen will, Scheinmotive vorschiebt, vermöge welches es seinem Willen zu folgen glaubend, doch nur dem des Andern folgt. Da das Medium, in welchem die Motive liegen, die Erkenntnis ist, so kann der Listige seinen Zweck nur durch Verfälschung der fremden Erkenntnis erreichen, und diese eben ist die Lüge. (W. I, 398. E. 222.)
Die Lüge bezweckt allemal Einwirkung auf den fremden Willen, nicht auf seine Erkenntnis allein für sich und als solche, sondern auf diese nur als Mittel, nämlich sofern sie seinen Willen bestimmt. Denn das Lügen selbst, als vom Willen ausgehend, bedarf eines Motivs; ein solches kann aber nur der fremde Wille sein, nicht die fremde Erkenntnis an und für sich. Dies gilt nicht nur von allen aus offenbarem Eigennutz entsprungenen Lügen, sondern auch von den aus reiner Bosheit, die sich an den schmerzlichen Folgen des von ihr veranlassten fremden Irrtums weiden will, hervorgegangenen. Sogar die bloße Windbeutelei bezweckt, mittelst dadurch erhöhter Achtung, oder verbesserter Meinung von Seiten der Andern, größeren oder leichteren Einfluss auf ihr Wollen und Thun. (W. I, 398. E. 222.)
Die Quelle der Lüge ist allemal die Absicht, die Herrschaft seines Willens auszudehnen über fremde Individuen, den Willen dieser zu verneinen, um seinen eigenen desto besser zu bejahen; folglich geht die Lüge als solche aus von Ungerechtigkeit, Übelwollen, Bosheit. (H. 402.)

2) Worauf die Unrechtmäßigkeit der Lüge beruht.

Aus dem über Ursprung und Zweck der Lüge Gesagten ergibt sich, dass jede Lüge, wie jede Gewalttätigkeit, als solche Unrecht ist, weil sie schon als solche zum Zweck hat, die Herrschaft des Willens des Lügenden auf fremde Individuen auszudehnen, also seinen Willen durch Verneinung des ihrigen zu bejahen, so gut wie die Gewalt. (W. I, 399.) Die Unrechtmäßigkeit der Lüge beruht darauf, dass sie ein Werkzeug der List, d. h. des Zwangs mittelst der Motivation ist. Dies aber ist sie in der Regel. (E. 222.)

3) Unterschied zwischen Lüge und bloßer Verweigerung einer Aussage.

Das bloße Verweigern einer Wahrheit, d. h. einer Aussage überhaupt, ist an sich kein Unrecht, wohl aber jedes Aufheften einer Lüge. Wer dem verirrten Wanderer den rechten Weg zu zeigen sich weigert, tut ihm kein Unrecht, wohl aber der, welcher ihn auf den falschen hinweist. (W. I, 398.)

4) Inwieweit es ein Recht zur Lüge gibt.

Die Abwehrung fremden Unrechts ist nur die Verneinung einer Verneinung, also Recht. Ich kann ohne Unrecht den meinen Willen verneinenden fremden Willen zwingen, von dieser Verneinung abzustehen, d. h. ich habe somit ein Zwangsrecht. In allen Fällen daher, wo ich ein Zwangsrecht, ein vollkommenes Recht habe, Gewalt gegen Andere zu gebrauchen, kann ich nach Maßgabe der Umstände ebensowohl der fremden Gewalt auch die List entgegenstellen, ohne Unrecht zu tun, und habe folglich ein Recht zur Lüge, gerade soweit, wie ich es zum Zwang habe, z. B. gegen Räuber und unberechtigte Gewaltiger jeder Art. (W. I, 401 fg. E. 222.)
Aber das Recht zur Lüge geht sogar noch weiter; es tritt ein bei jeder völlig unbefugten Frage, deren Beantwortung nicht nur, sondern schon deren bloße Zurückweisung mich in Gefahr bringen würde. Hier ist die Lüge die Notwehr gegen unbefugte Neugier, deren Motiv meistens kein wohlwollendes ist. Aber auch nur für den Fall der Notwehr gestattet die Moral den Gebrauch der Lüge. Den Fall der Notwehr gegen Gewalt oder List ausgenommen, ist jede Lüge ein Unrecht; daher die Gerechtigkeit Wahrhaftigkeit gegen Jedermann fordert. Aber gegen die völlig unbedingte, ausnahmslose Verwerflichkeit der Lüge spricht schon dies, dass es Fälle gibt, wo Lüge sogar Pflicht ist, namentlich für Ärzte; ebenfalls, dass es edelmütige Lügen gibt. Die gangbare Lehre von der Notlüge ist ein elender Flicken auf dem Kleide einer armseligen Moral. Kants Polemik gegen die Lüge ist nicht stichhaltig. (E. 222—225.)

5) Warum die Lüge schimpflicher ist und für schimpflicher gilt, als Gewalt.

Unrecht durch Gewalt ist für den Ausüber nicht so schimpflich wie Unrecht durch List, weil jenes von physischer Kraft zeugt, welche unter allen Umständen dem Menschengeschlechte imponiert, dieses hingegen durch Gebrauch des Umwegs Schwäche verrät und ihn also als physisches und moralisches Wesen zugleich herabsetzt; zudem, weil Lug und Betrug nur dadurch gelingen kann, dass wer sie ausübt zu gleicher Zeit selbst Abscheu und Verachtung dagegen äußeren muss, um Zutrauen zu gewinnen, und sein Sieg darauf beruht, dass man ihm die Redlichkeit zutraut, die er nicht hat. (W. I, 399.)
Dass nach dem Prinzip der ritterlichen Ehre (vergl. unter Ehre: eine Afterart der Ehre) der Vorwurf der Lüge als so schwer und eigentlich mit dem Blute des Anschuldigers abzuwaschen genommen wird, während die Anschuldigung eines durch Gewalt verübten Unrechts nicht als so drückend betrachtet wird, liegt daran, dass nach dem Prinzip der ritterlichen Ehre eigentlich die Gewalt das Recht begründet; wer nun, um ein Unrecht auszuführen, zur Lüge greift, beweist, dass ihm die Gewalt, oder der zur Anwendung dieser nötige Mut abgeht. Jede Lüge zeugt von Furcht; das bricht den Stab über ihn. (E. 226.) Historisch schreibt sich die hohe Indignation des ritterlichen Ehrenprinzips über den Vorwurf der Lüge aus dem Mittelalter her. (P. I, 394.)

6) Vertragsbruch, Betrug und Verrat.

Die vollkommenste Lüge ist der gebrochene Vertrag, weil hier die das Wesen und den Zweck der Lüge ausmachenden Bestimmungen vollständig und deutlich vorhanden sind. Denn, indem ich einen Vertrag eingehe, ist die fremde verheißene Leistung unmittelbar und eigentlich das Motiv zur meinigen nunmehr erfolgenden. Die Versprechen werden mit Bedacht und förmlich gewechselt. Bricht der Andere den Vertrag, so hat er mich getäuscht und, durch Unterschieben bloßer Scheinmotive in meine Erkenntnis, meinen Willen nach seiner Absicht gelenkt, die Herrschaft seines Willens über das fremde Individuum ausgedehnt, also ein vollkommenes Unrecht begangen. Hierauf gründet sich die moralische Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Verträge. (W. I, 399. E. 222.) Das Verächtliche des Betruges kommt daher, dass er durch Gleisnerei seinen Mann entwaffnet, ehe er ihn angreift. Der Verrat ist sein Gipfel und wird, weil er in die Kategorie der doppelten Ungerechtigkeit gehört, tief verabscheut. (E. 222.)
Der tiefe Abscheu, den Arglist, Treulosigkeit und Verrat überall erregen, beruht darauf, dass Treue und Redlichkeit das Band sind, welches den in die Vielheit der Individuen zersplitterten Willen doch von Außen wieder zur Einheit verbindet und dadurch den Folgen des aus jener Zersplitterung hervorgegangenen Egoismus Schranken setzt. Treulosigkeit und Verrat zerreißen dieses letzte, äußere Band und geben dadurch den Folgen des Egoismus Grenzenlosen Spielraum. (W. I, 399.)

7) Ein Mittel zur Entlarvung der Lüge.

Wenn man argwöhnt, dass Einer lüge, stelle man sich gläubig; da wird er dreist, lügt stärker und ist entlarvt. (P. I, 494.)