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Schopenhauers Kosmos

 

 Ehre.

1) Definition der Ehre.

Eine Definition wie diese: die Ehre ist das äußere Gewissen, und das Gewissen die innere Ehre, könnte vielleicht Manchem gefallen, wäre jedoch mehr eine glänzende, als eine deutliche und gründliche Erklärung. Deutlicher und gründlicher ist: die Ehre ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserm Wert, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung. (P. I, 383.)

2) Wurzel und Ursprung des Ehrgefühls.

Die Wurzel und der Ursprung des jedem nicht ganz verdorbenen Menschen innewohnenden Gefühls für Ehre und Schande liegt in dem Innewerden des Individuums, dass es nicht in der Isolierung, sondern nur in der Gemeinschaft etwas ist und vermag. Hieraus entsteht das Bestreben, für ein taugliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu gelten und dadurch der Vorteile der menschlichen Gemeinschaft teilhaft zu werden. Hierzu kommt es auf die günstige Meinung der Anderen an, und hieraus entspringt demnach das eifrige Streben nach der günstigen Meinung Anderer und der hohe Wert, der darauf gelegt wird. (P. I, 383.)

3) Wirkungen der Ehre.

Nach ihrer subjektiven Seite, als Furcht vor der Meinung Anderer, hat die Ehre oft eine sehr heilsame, wenn auch keineswegs rein moralische Wirkung, — im Mann von Ehre. (P. I, 383.)
Nichts stärkt den Lebensmut mehr, als die erlangte, oder erneuerte Gewissheit von der günstigen Meinung Anderer; weil sie den Schutz und die Hilfe der vereinten Kräfte Aller verspricht. (P. I, 383.)

4) Wert der Ehre.

Der Wert der Ehre ist nur ein mittelbarer. Denn die Meinung Anderer von uns kann nur insofern Wert für uns haben, als sie ihr Handeln gegen uns bestimmt oder gelegentlich bestimmen kann. Dies ist jedoch der Fall, so lange wir mit oder unter Menschen leben. Unmittelbarer Wert kommt der Ehre nicht zu. (P. I, 386.) Alle Ehre beruht zuletzt auf Nützlichkeitsrücksichten. (P. I, 388.)

5) Verlust der Ehre.

Auf der Wahrheit, dass der Charakter unveränderlich ist (s. Charakter) beruht es, dass die wahre Ehre, ein Mal verloren, nie wieder herzustellen ist, sondern der Makel einer einzigen nichtswürdigen Handlung dem Menschen auf immer anklebt. (E. 51.) Immer beruht die Ehre, in ihrem letzten Grunde, auf der Überzeugung von der Unveränderlichkeit des moralischen Charakters, vermöge welcher eine einzige schlechte Handlung die gleiche moralische Beschaffenheit aller folgenden, sobald ähnliche Umstände eintreten werden, verbürgt. Deshalb eben ist die verlorene Ehre nicht wieder herzustellen; es sei denn, dass der Verlust auf Täuschung, wie Verleumdung, oder falschem Schein beruht hätte. (P. I, 384.)

6) Gegensatz zwischen Ehre und Ruhm.

Die Ehre hat in gewissem Sinne einen negativen Charakter, nämlich im Gegensatz zum Ruhm, der einen positiven Charakter hat. Denn die Ehre ist nicht die Meinung von besonderen, diesem Subjekt allein zukommenden Eigenschaften, sondern nur von den der Regel nach vorauszusetzenden, welche auch ihm nicht abgehen sollen. Sie besagt daher nur, dass das Subjekt keine Ausnahme mache; während der Ruhm besagt, dass es eine mache. Ruhm muss daher erst erworben werden; die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehen. Dem entsprechend ist Ermangelung des Ruhms Obskurität, ein Negatives; Ermangelung der Ehre ist Schande, ein Positives. (P. I, 385.) Die Ehre betrifft bloß solche Eigenschaften, die von jedem in denselben Verhältnissen Stehenden gefordert werden, der Ruhm bloß solche, die man von Niemand fordern darf; die Ehre solche, die Jeder sich selber öffentlich beilegen darf; der Ruhm solche, die Keiner sich selber beilegen darf. Während unsere Ehre so weit reicht, wie die Kunde von uns; so eilt, umgekehrt, der Ruhm der Kunde von uns voran und bringt diese so weit er selbst gelangt. Auf Ehre hat Jeder Anspruch, auf Ruhm nur die Ausnahmen. (P. I, 415.) Während die Ehre in der Regel gerechte Richter findet und kein Neid sie anficht, ja sogar sie Jedem zum voraus, auf Kredit, verliehen wird, muss der Ruhm dem Neide zum Trotz erkämpft werden und den Lorbeer teilt ein Tribunal entschieden ungünstiger Richter aus. (P. I, 421.)

7) Arten der Ehre.

Aus den verschiedenen Beziehungen, in denen der Mensch zu Andern steht und in Hinsicht auf welche sie Zutrauen zu ihm, also eine gewisse gute Meinung von ihm, zu hegen haben, entstehen mehrere Arten der Ehre. Diese Beziehungen sind hauptsächlich das Mein und Dein, sodann die Leistungen der Anheischigen, endlich das Sexualverhältnis; ihnen entsprechen die bürgerliche Ehre, die Amtsehre und die Sexualehre, jede von welchen noch wieder Unterarten hat. (P. I, 384.)
a) Die bürgerliche Ehre, welche die weiteste Sphäre hat, besteht in der Voraussetzung, dass wir die Rechte eines Jeden unbedingt achten und daher uns nie ungerechter, oder gesetzlich unerlaubter Mittel zu unserm Vorteile bedienen werden. Sie ist die Bedingung zur Teilnahme an allem friedlichen Verkehr. (P. I, 384.) Die Grundsätze der bürgerlichen Ehre beruhen auf dem moralischen und nicht auf dem bloß positiven Recht. (W. II, 683.)
b) Die Amtsehre ist die allgemeine Meinung Anderer, dass ein Mann, der ein Amt versieht, alle dazu erforderlichen Eigenschaften wirklich habe und auch in allen Fällen seine amtlichen Obliegenheiten pünktlich erfüllt. Die Amtsehre erfordert ferner, dass wer ein Amt versieht, das Amt selbst in Respekt erhalte. (P. I, 386 fg.)
c) Die Sexualehre zerfällt ihrer Natur nach in Weiber- und Männer-Ehre, und ist von beiden Seiten ein wohlverstandener esprit de corps. Die weibliche Ehre ist die allgemeine Meinung von einem Mädchen, dass sie sich gar keinem Manne, und von einer Frau, dass sie sich nur dem ihr angetrauten hingegeben habe. (P. I, 388.) Die weibliche Ehre hat zwar große Wichtigkeit für das weibliche Glück; aber ihr Wert ist doch nur ein relativer, kein absoluter, über das Leben und seine Zwecke hinausliegender. Daher ist den überspannten Taten der Lucretia und des Virginius kein Beifall zu schenken, und der Schluss der Emilia Galotti hat etwas Empörendes. Jenes auf die Spitze Treiben des weiblichen Ehrenprinzips gehört zum Vergessen des Zwecks über die Mittel. Die Sexualehre hat mehr als alle andere Ehre einen bloß relativen, ja, man möchte sagen einen bloß konventionellen Wert. (P. I, 388 fg.)
Die Geschlechtsehre der Männer wird durch die der Weiber hervorgerufen, als der entgegengesetzte esprit de corps, welcher verlangt, dass Jeder, der die Ehe eingegangen ist, darüber wache, dass dieses Pactum nicht durch Einreißen einer laxen Observanz seine Festigkeit verliere. Demgemäß fordert die Ehre des Mannes, dass er den Ehebruch seiner Frau ahnde und wenigstens durch Trennung von ihr strafe. (P. I, 390 fg.) Die den Mann durch Verlust der Geschlechtsehre treffende Schande ist nicht so groß, wie die das Weib treffende, weil beim Manne die Geschlechtsbeziehung eine untergeordnete ist, indem er in noch vielen anderen und wichtigeren steht. (P. I, 391.)

8) Eine Afterart der Ehre.

Obgleich die Ehre einen negativen Charakter hat (s. Gegensatz zwischen Ehre und Ruhm), so ist doch diese Negativität nicht mit Passivität zu verwechseln; vielmehr hat die Ehre einen ganz aktiven Charakter. Sie geht nämlich allein von dem Subjekt derselben aus, beruht auf seinem Tun und Lassen, nicht aber aus Dem, was Andere tun und was ihm widerfährt. Dies ist ein Unterscheidungsmerkmal der wahren Ehre von der ritterlichen, oder Afterehre. (P. I, 385.) Während die echten Arten der Ehre sich bei allen Völkern und zu allen Zeiten finden, ist die ritterliche Ehre oder das point d'honneur erst im Mittelalter entstanden, und bloß im christlichen Europa und zwar bloß unter den höheren Ständen einheimisch geworden. (P. I, 391. 398 fg.)
Die Grundsätze der ritterlichen Ehre sind von denen der echten Arten der Ehre gänzlich verschieden, ja ihnen zum Teil entgegengesetzt und bilden einen ganzen Codex oder Spiegel der ritterlichen Ehre. (P. I, 391 ff.) Dass dieser seltsame, barbarische und lächerliche Codex der Ehre nicht aus dem Wesen der menschlichen Natur oder einer gesunden Ansicht menschlicher Verhältnisse hervorgegangen sei, erkennt der Unbefangene auf den ersten Blick. (P. I, 398.) Das ritterliche Ehrenprinzip mit seinem absurden Duellwesen ist ein künstliches, ist ein Kind jener Zeit, wo die Fäuste geübter waren, als die Köpfe, wo die Pfaffen die Vernunft in Ketten hielten und schwierige Rechtsfälle durch Ordalien, Gottesurteile, die hauptsächlich in Zweikämpfen bestanden, entschieden wurden, also ein Kind des Mittelalters und seines Rittertums. (P. I, 402.)
Die Tendenz des ritterlichen Ehrenprinzips ist diese, dass man durch Androhung physischer Gewalt die äußerlichen Bezeugungen derjenigen Achtung erzwingen will, welche wirklich zu erwerben man entweder für zu beschwerlich, oder für überflüssig hält. Während die bürgerliche Ehre in der Meinung der Anderen von uns besteht, dass wir vollkommenes Zutrauen verdienen, weil wir die Rechte eines Jeden unbedingt achten; so besteht die ritterliche Ehre in der Meinung von uns, dass wir zu fürchten sind — ein Grundsatz, der so falsch nicht wäre, wenn wir noch im Naturzustand lebten, der aber im Stande der Zivilisation keine Gültigkeit mehr hat und dessen Festhalten nur aus einer der Natur und dem Lose des Menschen gänzlich unangemessenen Überschätzung des Wertes der eigenen Person beruht. (P. I, 403. H. 384.)
Die Beschönigungen des vermessenen Hoch- und Übermutes des ritterlichen Ehrenprinzips mit seinen Duellen sind nicht stichhaltig. Weit entfernt, eine Wehrmauer gegen die Ausbrüche der Rohheit und Ungezogenheit zu sein, ist das ritterliche Ehrenprinzip oft das sichere Asylum, wie im Großen der Unredlichkeit und Schlechtigkeit, so im Kleinen der Ungezogenheit, Rücksichtslosigkeit und Flegelei. (P. I, 404 fg.)

9) Die Nationalehre.

Die Nationalehre ist die Ehre eines ganzen Volkes als Teiles der Völkergemeinschaft. Da es in dieser kein anderes Forum gibt, als das der Gewalt, und demnach jedes Mitglied derselben selbst sein Recht zu schützen hat; so besteht die Ehre einer Nation nicht allein in der erworbenen Meinung, dass ihr zu trauen sei (Kredit), sondern auch in der, dass sie zu fürchten sei; daher darf sie Eingriffe in ihre Rechte niemals ungeahndet lassen. Sie vereinigt also den Ehrenpunkt der bürgerlichen mit dem der ritterlichen Ehre. (P. I, 415.)

10) Die dem Alter erwiesene Ehre.

S. Lebensalter.