Charakter.
1) Der Charakter als Naturkraft.
Der Mensch ist, wie jeder andere Teil der Natur, Objektität des Willens. Wie jedes Ding in der Natur seine Kräfte und Qualitäten hat, die auf bestimmte Einwirkung bestimmt reagieren und seinen Charakter ausmachen; so hat auch er seinen Charakter, aus dem die Motive seine Handlungen hervorrufen und zwar mit Notwendigkeit. (W. I, 339.)
Die speziell und individuell bestimmte Beschaffenheit des Willens,
vermöge deren seine Reaktion auf die selben Motive in jedem Menschen
eine andere ist, macht Das aus, was man dessen Charakter nennt.
Durch ihn ist die Wirkungsart der verschiedenartigen Motive auf den
gegebenen Menschen bestimmt. Denn er liegt allen Wirkungen, welche
die Motive hervorrufen, so zum Grunde, wie die allgemeinen Naturkräfte
den durch Ursachen im engsten Sinn hervorgerufenen Wirkungen, und
die Lebenskraft den Wirkungen der Reize. (E. 48.)
Jedes Seiende muss eine ihm wesentliche, eigentümliche Natur
haben, vermöge welcher es ist was es ist, die es stets behauptet, deren
Äußerungen von den Ursachen mit Notwendigkeit hervorgerufen werden;
während hingegen diese Natur selbst keineswegs das Werk jener Ursachen,
noch durch dieselben modifikabel ist. Alles dies gilt vom
Menschen und seinem Willen eben so sehr wie von allen übrigen Wesen
in der Natur. Auch er hat zur Existentia eine Essentia, d. h. grundwesentliche
Eigenschaften, die seinen Charakter ausmachen und nur der
Veranlassung bedürfen, um hervorzutreten. (E. 57 fg.)
2) Unterschied zwischen Tier und Mensch in Hinsicht auf den Charakter.
Bei den Tieren ist der Charakter in jeder Spezies, beim Menschen in jedem Individuum ein anderer. Nur in den allerobersten, klügsten Tieren zeigt sich schon ein merklicher Individualcharakter, wiewohl mit durchaus überwiegendem Charakter der Spezies. (E. 48.) Die große Verschiedenheit individueller Charaktere im Menschengeschlecht drückt sich schon äußerlich aus durch stark gezeichnete individuelle Physiognomie, welche die gesamte Korporisation mitbegreift. Diese Individualität hat bei weitem in solchem Grade kein Tier. Je weiter abwärts in der Tierreihe, desto mehr verliert sich jede Spur von Individualcharakter in den allgemeinen der Spezies, deren Physiognomie auch allein übrig bleibt. Man kennt den psychologischen Charakter der Gattung und weiß daraus genau, was vom Individuum zu erwarten steht; während in der Menschenspezies jedes Individuum für sich studiert und ergründet sein will. (W. I, 156.)3) Wesentliche Prädikate des menschlichen Charakters.
Der Charakter des Menschen ist 1. individuell, 2. empirisch, 3. konstant, 4. angeboren. (E. 48 ff.)
1. Die Individualität des Charakters zeigt sich besonders in
der Verschiedenheit der Wirkung eines und desselben Motivs auf verschiedene
Menschen. Aus der Kenntnis des Motivs allein lässt sich
daher die Tat nicht vorhersagen, sondern man muss hierzu auch den
individuellen Charakter genau kennen. (E. 48.)
2. Dass der Charakter empirisch ist, d. h. dass man seinen eigenen,
wie den Charakter anderer Individuen nur durch Erfahrung kennen
lernt, zeigt sich in der häufigen Enttäuschung über sich und Andere,
in der Entdeckung der Abwesenheit von Eigenschaften an sich und andern,
die man vorher voraussetzte. Weil man den Charakter erst aus
der Erfahrung und wenn die Gelegenheit kommt, kennen lernt, kann
keiner vorher wissen, wie er selbst oder wie ein Anderer in einer bestimmten
Lage handeln wird. Nur nach bestandener Probe ist man
des Anderen und seiner selbst gewiss. (E. 49. P. II, 247.) In Folge
der der inneren Erkenntnis anhängenden Form der Zeit erkennt Jeder
seinen Willen nur in dessen sukzessiven einzelnen Arten, nicht aber im
Ganzen, an und für sich; daher kennt Keiner seinen Charakter a priori,
sondern Jeder lernt ihn erst erfahrungsmäßig und stets unvollkommen
kennen. (W. II, 220.)
3. Die Konstanz oder Unveränderlichkeit des Charakters während
des ganzen Lebens wird durch die Erfahrung bestätigt, dass man
sich und Andere oft nach langen Zwischenräumen auf denselben Pfaden
betrifft, wie ehemals. Bloß in der Richtung und dem Stoff erfährt
der Charakter scheinbar Modifikationen, welche Folge der Verschiedenheit
der Lebensalter und ihrer Bedürfnisse sind. Bloß die Erkenntnis
ändert sich im Laufe des Lebens, und damit die Handlungsweise,
aber nicht der Charakter. (E. 50—53.) Bei der Vergleichung
unserer Denkungsart in verschiedenen Lebensaltern zeigt sich uns ein
sonderbares Gemisch von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit. Einerseits
ist die moralische Tendenz des Mannes und Greises noch dieselbe,
welche die des Knaben war; andererseits ist ihm Vieles so entfremdet,
dass er sich nicht mehr kennt und sich wundert, wie er einst Dieses und
Jenes tun oder sagen gekonnt. Bei näherer Untersuchung aber wird
man finden, dass das Veränderliche der Intellekt war, mit seinen
Funktionen der Einsicht und Erkenntnis. Als das Unabänderliche im
Bewusstsein hingegen weist sich die Basis desselben aus, der Wille, der
Charakter; wobei jedoch die Modifikationen in Rechnung zu bringen
sind, welche von den körperlichen Fähigkeiten zum Genuss und hierdurch
vom Alter abhängen. (W. II, 251 fg. P. II, 248. I, 483.) Der
große Anatom Bichat ist auf dem Wege seiner rein physiologischen
Betrachtungsweise dahin gelangt, die Unveränderlichkeit des moralischen
Charakters daraus zu erklären, dass nur das animale Leben, also
die Funktion des Gehirns, dem Einfluss der Erziehung, Übung, Bildung
und Gewohnheit unterworfen ist, der moralische Charakter
aber dem von außen nicht modifikablen organischen Leben, d. h. dem
aller übrigen Teile, angehört. (W. II, 298.)
(Vergleiche auch den Artikel Besserung.)
4. Die Angeborenheit des individuellen Charakters wird durch
die Erblichkeit des Charakters bewiesen. (Vergl. Vererbung.)
Zufolge derselben legen bei der allergleichsten Erziehung und Umgebung
verschiedene Kinder den grundverschiedensten Charakter aufs Deutlichste
an den Tag. (E. 53.) Tugenden und Laster sind angeboren. (E.
53 ff.) Der ethische Unterschied der Charaktere ist angeboren
und unvertilgbar. Dem Boshaften ist seine Bosheit so angeboren,
wie der Schlange ihre Giftzähne und Giftblase; und so wenig, wie sie,
kann er es ändern. (E. 249.) Die in den verschiedenen Menschen
so höchst verschiedene Empfänglichkeit für die Motive des Eigennutzes,
der Bosheit und des Mitleids, worauf der ganze moralische
Wert des Menschen beruht, ist nicht etwas aus einem Anderen Erklärliches,
noch durch Belehrung zu Erlangendes und daher in der
Zeit Entstehendes und Veränderliches, ja, vom Zufall Abhängiges,
sondern angeboren, unveränderlich und nicht weiter erklärlich. (E. 258.)
4) Verhältnis des intelligiblen zum empirischen Charakter.
Was, durch die notwendige Entwickelung in der Zeit und das dadurch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen, als empirischer Charakter erkannt wird, ist, mit Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung, der intelligible Charakter, nach dem Ausdrucke Kants. Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willensact, der sich in ihr offenbart, zusammen. Insofern ist also nicht nur der empirische Charakter jedes Menschen, sondern auch jeder Tierspezies, ja jeder Pflanzenspezies und sogar jeder ursprünglichen Kraft der unorganischen Natur, als Erscheinung eines intelligiblen Charakters, d. h. eines außerzeitlichen unteilbaren Willensaktes anzusehen. (W. I, 185.) Wie der ganze Baum nur die stets wiederholte Erscheinung eines und desselben Triebes ist, der sich am einfachsten in der Faser darstellt und in der Zusammensetzung zu Blatt, Stiel, Ast, Stamm wiederholt und leicht darin zu erkennen ist; so sind alle Taten des Menschen nur die stets wiederholte, in der Form etwas abwechselnde Äußerung seines intelligiblen Charakters, und die aus der Summe derselben hervorgehende Induktion gibt seinen empirischen Charakter. (W. I, 341 fg.) Der intelligible Charakter ist in allen Taten des Individuums gleichmäßig gegenwärtig und in ihnen allen, wie das Petschaft in tausend Siegeln, ausgeprägt. Von ihm erhält der empirische Charakter, der in der Zeit und Sukzession der Akte sich darstellt, seine Bestimmtheit, und zeigt in allen von den Motiven hervorgerufenen Äußerungen die Konstanz eines Naturgesetzes. (E. 175 fg. 251.)
Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligiblen,
welcher grundloser, d. h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der
Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt. Der
empirische Charakter muss in einem Lebenslauf das Abbild des intelligiblen
liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses
es erfordert. Allein diese Bestimmung erstreckt sich nur auf das
Wesentliche, nicht auf das Unwesentliche des demnach erscheinenden
Lebenslaufs. Zu diesem Unwesentlichen gehört die nähere Bestimmung
der Begebenheiten und Handlungen, welche der Stoff sind, an dem der
empirische Charakter sich zeigt. (W. I, 189.)
5) Beseitigung einer falschen Folgerung aus der Unveränderlichkeit des empirischen Charakters.
Aus der Unveränderlichkeit des empirischen Charakters, als welcher die bloße Entfaltung des außerzeitlichen intelligiblen ist, könnte sehr leicht die Folgerung zu Gunsten der verwerflichen Neigungen gezogen werden, dass es vergebliche Mühe wäre, an einer Besserung seines Charakters zu arbeiten, oder der Gewalt böser Neigungen zu widerstreben, daher es geratener wäre, sich dem Unabänderlichen zu unterwerfen und jeder Neigung, sei sie auch böse, sofort zu willfahren. Diese Folgerung aber ist falsch. Denn, obgleich unsere Taten immer unserm Charakter gemäß ausfallen, so ist uns doch keine Einsicht a priori in diesen gegeben; sondern nur a posteriori, durch die Erfahrung lernen wir, wie die Andern, so auch uns selbst kennen. Brachte der intelligible Charakter es mit sich, dass wir einen guten Entschluss nur nach langem Kampf gegen eine böse Neigung fassen konnten; so muss dieser Kampf vorhergehen und abgewartet werden. Die Reflexion über die Unveränderlichkeit des Charakters, über die Einheit der Quelle, aus welcher alle unsere Taten fließen, darf uns nicht verleiten, zu Gunsten des einen, noch des anderen Teiles, der Entscheidung des Charakters vorzugreifen; am erfolgenden Entschluss werden wir sehen, welcher Art wir sind, und uns an unseren Taten spiegeln. (W. I, 355—357.)6) Der erworbene Charakter.
Neben dem intelligiblen und empirischen Charakter ist als ein Drittes, von beiden Verschiedenes zu erwähnen der erworbene Charakter. (W. I, 357.) Erst die genaue Kenntnis seines eigenen empirischen Charakters gibt dem Menschen Das, was man erworbenen Charakter nennt. Derjenige besitzt ihn, der seine eigenen Eigenschaften, gute wie schlechte, genau kennt und dadurch sicher weiß, was er sich zutrauen und zumuten darf, was aber nicht. Er spielt seine eigene Rolle, die er zuvor, vermöge seines empirischen Charakters, nur naturalisierte, jetzt kunstmäßig und methodisch, mit Festigkeit und Anstand, ohne jemals, wie man sagt, aus dem Charakter zu fallen. (E. 50.) Den erworbenen Charakter erhält man erst im Leben durch den Weltgebrauch, und von ihm ist die Rede, wenn man gelobt wird als ein Mensch, der Charakter hat, oder getadelt als charakterlos. (W. I, 357—362.)7) Erkennbarkeit des Charakters.
Während das Tun des Tieres bloß durch anschauliche Motive bestimmt wird, und daher der Charakter des Tieres, wo nicht etwa Dressur entgegenwirkt, leicht zu erkennen ist, hat sich beim Menschen mit der Vernunft und den durch sie gelieferten abstrakten Motiven, welche ihn von der Gegenwart und anschaulichen Umgebung unabhängig machen, die Fähigkeit der Verstellung eingestellt. Diese drückt allen seinen Bewegungen das Gepräge des Vorsätzlichen, Berechneten auf, und darum ist der Charakter des Menschen viel schwerer erkennbar, als der des Tieres. (W. I, 156. N. 78.)
Jedoch wie ein Botaniker an Einem Blatt die ganze Pflanze erkennt;
wie Cuvier aus Einem Knochen das ganze Tier konstruiert;
so kann man aus Einer charakteristischen Handlung eines Menschen
eine richtige Kenntnis seines Charakters erlangen, also ihn gewissermaßen
daraus konstruieren; sogar auch wenn diese Handlung eine Kleinigkeit
betrifft; ja, dann oft am besten; denn bei wichtigen Dingen nehmen
die Leute sich in Acht, bei Kleinigkeiten folgen sie, ohne vieles Bedenken,
ihrer Natur. (P. II, 246.) In Kleinigkeiten, als bei welchen der
Mensch sich nicht zusammennimmt, zeigt er seinen Charakter, und da
kann man oft an geringfügigen Handlungen, an bloßen Manieren,
seinen Charakter kennen lernen. (P. I, 482.)
Da der Leib des menschlichen Individuums nur die Sichtbarkeit
seines individuellen Willens ist, also diesen objektiv darstellt, so muss
nicht nur die Beschaffenheit seines Intellekts aus der seines Gehirns
und dem dasselbe excitirenden Blutlauf, sondern auch sein gesamter
moralischer Charakter mit allen seinen Zügen und Eigenheiten muss
aus der näheren Beschaffenheit seiner ganzen übrigen corporisation, also
aus der Textur, Größe, Qualität und dem gegenseitigen Verhältnis
des Herzens, der Leber, der Lunge, der Milz, der Nieren u. s. w. zu
verstehen und abzuleiten sein; wenn wir auch wohl nie dahin gelangen
werden, dies wirklich zu leisten. Aber objektiv muss die Möglichkeit
dazu vorhanden sein. (P. II, 189.)