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Schopenhauers Kosmos

 

 Geschlechtstrieb.

1) Unterschied zwischen Tier und Mensch in Hinsicht auf den Geschlechtstrieb.

Es ist als ein Phänomen des den Menschen von allen Tieren Unterscheidenden eigentlichen Individualcharakters anzusehen, dass bei den Tieren der Geschlechtstrieb seine Befriedigung ohne merkliche Auswahl sucht, während diese Auswahl beim Menschen, und zwar auf eine von aller Reflexion unabhängige, instinktmäßige Weise, so hoch getrieben wird, dass sie bis zur gewaltigen Leidenschaft steigt. (W. I, 156.) An die Stelle der bloß tierischen Brunst tritt beim Menschen die sorgfältige und kapriziöse Auswahl des anderen Individuums zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, welche sich bis zur leidenschaftlichen Liebe steigern kann. (W. II, 582.) Durch diese Steigerung des Geschlechtstriebes aber zur Liebe steigern sich beim Menschen auch die an die Geschlechtsbefriedigung sich knüpfenden Leiden, wie überhaupt die Steigerung der Affekte beim Menschen eine Steigerung der Leiden zur Folge hat. (P. II, 315 fg. H. 409.)

2) Bedeutung und Macht des Geschlechtstriebes.

Der Geschlechtstrieb ist anzusehen als der innere Zug des Baumes der Gattung, auf welchem das Leben des Individuums sprosst, wie ein Blatt, das vom Baum genährt wird und ihn zu nähren beiträgt; daher ist jener Trieb so stark und aus der Tiefe unserer Natur. (W. II, 583. Vergl. auch Gattungsleben unter Gattung.) Die Befriedigung des Geschlechtstriebes geht über die Bejahung der eigenen Existenz, die eine so kurze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben über dem Tod des Individuums in eine unbestimmte Zeit hinaus. (W. I, 387. W. II, 649. P. II, 310.)
Die Begierde des Geschlechts trägt einen von jeder anderen sehr verschiedenen Charakter; sie ist nicht nur die stärkste, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als alle andern. Sie ist nicht, wie andere Wünsche, Sache des Geschmacks und der Laune. Denn sie ist der das Wesen des Menschen ausmachende Wunsch. Im Konflikt mit ihr ist kein Motiv so stark, dass es des Sieges gewiss wäre. Sie ist so sehr die Hauptsache, dass für die Entbehrung ihrer Befriedigung keine anderen Genüsse entschädigen; auch übernimmt Tier und Mensch ihretwegen jede Gefahr, jeden Kampf. Dies stimmt damit überein, dass der Geschlechtstrieb der Kern des Willens zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens ist. Der Wille zum Leben äußert sich zwar zunächst als Streben zur Erhaltung des Individuums; jedoch ist dies nur die Stufe zum Streben nach Erhaltung der Gattung, welches letztere in dem Grade heftiger sein muss, als das Leben der Gattung an Dauer, Ausdehnung und Wert das des Individuums übertrifft. Daher ist der Geschlechtstrieb die vollkommenste Äußerung des Willens zum Leben, sein am deutlichsten ausgedrückter Typus; und hiermit ist sowohl das Entstehen des Individuums aus ihm, als sein Primat über alle anderen Wünsche des natürlichen Menschen in vollkommener Übereinstimmung. (W. II, 585—587. W. I, 389.)

3) Physiologisches Korrelat der Konzentration des Willens im Geschlechtstriebe.

Wie der Geschlechtstrieb die heftigste der Begierden, der Wunsch der Wünsche, die Konzentration alles unseres Wollens ist; — so finden wir, als physiologisches Korrelat hiervon, im objektivierten Willen, also im menschlichen Organismus, das Sperma als die Sekretion der Sekretionen, die Quintessenz aller Säfte, das letzte Resultat aller organischen Funktionen und haben hieran einen abermaligen Beleg dazu, dass der Leib nur die Objektität des Willens, d. h. der Wille selbst unter der Form der Vorstellung ist. (W. II, 587.)

4) Der Geschlechtstrieb, in Beziehung auf das Lebensglück betrachtet.

Wenn der Wille zum Leben sich bloß darstellte als Trieb zur Selbsterhaltung; so würde dies nur eine Bejahung der individuellen Erscheinung, auf die Spanne Zeit ihrer natürlichen Dauer sein. Die Mühen und Sorgen eines solchen Lebens würden nicht groß, mithin das Dasein leicht und heiter ausfallen. Weil hingegen der Wille das Leben schlechthin und auf alle Zeit will, stellt er sich zugleich dar als Geschlechtstrieb, der es auf eine endlose Reihe von Generationen abgesehen hat. Dieser Trieb hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld, die ein bloß individuelles Dasein begleiten würden, auf, indem er in das Bewusstsein Unruhe und Melancholie, in den Lebenslauf Unfälle, Sorge und Not bringt. (W. II, 649.)
Mit Recht schätzt Plato das Greisenalter glücklich, sofern es den bis dahin uns unablässig beunruhigenden Geschlechtstrieb endlich los ist. Sogar ließe sich behaupten, dass der Mensch erst nach Erlöschen des Geschlechtstriebes ganz vernünftig wird. Gewiss aber ist, dass die Melancholie der Jugend mit von der dämonischen Herrschaft des Geschlechtstriebes herrührt, die Heiterkeit des Alters dagegen die Heiterkeit Dessen ist, der eine lange getragene Fessel los ist und sich nun frei bewegt. — Andererseits jedoch ließe sich sagen, dass nach erloschenem Geschlechtstrieb der eigentliche Kern des Lebens verzehrt und nur noch die Schale desselben vorhanden sei. (P. I, 524.)

5) Freiwillige Entsagung der Befriedigung des Geschlechtstriebes.

Da in der Geschlechtsbefriedigung sich die Bejahung des Willens zum Leben ausdrückt, so ist freiwillige und durch kein Motiv begründete Entsagung der Befriedigung des Geschlechtstriebes schon Verneinung des Willens zum Leben, ist eine auf eingetretene, als Quietiv wirkende Erkenntnis, freiwillige Selbstaufhebung desselben. Demgemäß stellt solche Verneinung des eigenen Leibes sich schon als ein Widerspruch des Willens gegen seine eigene Erscheinung dar. Denn obgleich auch hier der Leib in den Genitalien den Willen zur Fortpflanzung objektiviert, wird diese dennoch nicht gewollt. Eben deshalb, nämlich weil sie Verneinung oder Aufhebung des Willens zum Leben ist, ist solche Entsagung eine schwere und schmerzliche Selbstüberwindung. (W. I, 394. W. II, 649.)

6) Widernatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes.

S. Päderastie.