3) Vorzug der Schrift vor der mündlichen Tradition.
Das Organ, womit man zur Menschheit redet, ist allein die
Schrift; mündlich redet man bloß zu einer Anzahl Individuen; daher,
was so gesagt wird, im Verhältnis zum Menschengeschlechte Privatsache
bleibt. Die Tradition wird bei jedem Schritte verfälscht; die Schrift
allein ist die treue Aufbewahrerin der Gedanken. Auch kommen die
Gedanken zu möglichster Deutlichkeit und Bestimmtheit erst durch die
Schrift; denn der schriftliche Vortrag ist ein wesentlich anderer, als
der mündliche, indem er allein die höchste Präzision, Konzision und
prägnante Kürze zulässt. Jeder tiefdenkende Geist hat daher das Bedürfnis,
seine Gedanken durch die Schrift festzuhalten. Es wäre in
einem Denker ein wunderlicher Übermut, die wichtigste Erfindung des
Menschengeschlechts unbenutzt lassen zu wollen. Sonach wird es schwer,
an den eigentlich großen Geist Derer zu glauben, die nicht geschrieben
haben. (
P. I, 45.)
4) Vergleichung der Schrift der Chinesen mit der Buchstabenschrift.
Wir verachten die Wortschrift der Chinesen. Aber, da die
Aufgabe aller Schrift ist, in der Vernunft des Anderen durch sichtbare
Zeichen Begriffe zu erwecken; so ist es offenbar ein großer
Umweg, dem Auge zunächst nur ein Zeichen des hörbaren Zeichens
derselben vorzulegen und allererst dieses zum Träger des Begriffs selbst
zu machen, wodurch unsere Buchstabenschrift nur ein Zeichen des
Zeichens ist. Es fragt sich demnach, welchen Vorzug denn das hörbare
Zeichen vor dem sichtbaren habe, um uns zu vermögen, den geraden
Weg vom Auge zur Vernunft liegen zu lassen und einen so großen
Umweg einzuschlagen, wie der ist, das sichtbare Zeichen erst durch
Vermittlung des hörbaren zum fremden Geiste reden zu lassen, während
es offenbar einfacher wäre, nach Weise der Chinesen das sichtbare
Zeichen unmittelbar zum Träger des Begriffes zu machen und nicht
zum bloßen Zeichen des Lautes. Die hier nachgefragten Gründe nun
würden folgende sein:
1) Wir greifen von Natur zuerst zum hörbaren
Zeichen und gelangen so zu einer Sprache für das Ohr, ehe wir nur
daran gedacht haben, eine für das Gesicht zu erfinden. Nachmals
aber ist es kürzer, diese letztere auf jene andere zurückzuführen, als
eine ganz neue, ja andersartige Sprache für das Auge zu erfinden.
2) Das Gesicht kann zwar mannigfaltigere Modifikationen fassen, als
das Ohr; aber solche für das Auge hervorzubringen, vermögen
wir nicht wohl ohne Werkzeuge, wie doch für das Ohr. Auch würden
wir die sichtbaren Zeichen nimmer mit der Schnelligkeit hervorbringen
und wechseln lassen können, wie, vermöge der Volubilität der Zunge,
die hörbaren. Dieses also macht von Hause aus das Gehör zum
wesentlichen Sinne der Sprache und dadurch der Vernunft. Doch,
die Sache abstrakt, rein theoretisch und
a priori betrachtet, bleibt das
Verfahren der Chinesen das eigentlich richtige. Auch hat die Erfahrung
einen überaus großen Vorzug der chinesischen Schrift zu Tage gebracht.
Man braucht nämlich nicht Chinesisch zu können, um sich darin auszudrücken;
sondern jeder liest sie in seiner eigenen Sprache ab, gerade
so, wie unsere Zahlzeichen, welche überhaupt für die Zahlenbegriffe
Das sind, was die chinesischen Schriftzeichen für alle Begriffe; und
die algebraischen Zeichen sind es sogar für abstrakte Größenbegriffe.
(
P. II, 607—609.)