Schlaf.
1) Die Notwendigkeit des Schlafes.
Dass Bewusstlosigkeit der ursprüngliche und natürliche Zustand aller Dinge, mithin auch die Basis ist, aus welcher, in einzelnen Arten der Wesen, das Bewusstsein hervorgeht, und sie auch im Menschen bleibt, ist zu spüren in der Notwendigkeit des Schlafes. (W. II, 156.) Der Embryo, weicher erst den Leib noch zu bilden hat, schläft fortwährend und das Neugeborene den größten Teil seiner Zeit. In diesem Sinne erklärt auch Burdach ganz richtig den Schlaf für den ursprünglichen Zustand. (W. II, 273.)
Das Phänomen des Schlafes bestätigt ganz vorzüglich, dass Bewusstsein,
Wahrnehmen, Erkennen, Denken nichts Ursprüngliches in uns ist,
sondern ein bedingter, sekundärer Zustand. Es ist ein Aufwand der
Natur, und zwar ihr höchster, den sie daher, je höher er getrieben
wird, desto weniger ohne Unterbrechung fortführen kann. (W. II, 276.)
Weil der Intellekt sekundär, physisch und ein bloßes Werkzeug ist,
deshalb bedarf er auf fast ein Drittel seiner Lebenszeit der gänzlichen
Suspension seiner Tätigkeit im Schlafe, d. h. der Ruhe des Gehirns,
dessen bloße Funktion er ist. (W. II, 240.) Nichts beweist deutlicher
die sekundäre, abhängige, bedingte Natur des Intellekts, als seine
periodische Intermittenz. Im tiefen Schlaf hört alles Erkennen und
Vorstellen gänzlich auf. Dagegen pausiert der Kern unseres Wesens,
das Metaphysische desselben, welches die organischen Funktionen als ihr
primum mobile notwendig voraussetzen, nie. Unermüdlich ist das
Herz. (W. II, 272. Vergl. unter Herz: Gegensatz zwischen Herz
un Kopf.)
2) Wirken der Lebenskraft im Schlafe.
Im Schlafe, wo bloß das vegetative Leben fortgesetzt wird, wirkt der Wille allein nach seiner ursprünglichen und wesentlichen Natur, ungestört von außen ohne Abzug seiner Kraft durch die Tätigkeit des Gehirns und Anstrengung des Erkennens, welches die schwerste organische Funktion, für den Organismus aber bloß Mittel, nicht Zweck ist; daher ist im Schlafe die ganze Kraft des Willens auf Erhaltung und, wo es nötig ist, Ausbesserung des Organismus gerichtet. (W. II, 273.)
Die Sensibilität ruht im Schlafe. Während zugleich mit ihr
Nachts auch die Irritabilität ruht, nimmt die Lebenskraft, als welche
nur unter einer ihrer drei Formen ganz und ungeteilt, daher mit
voller Macht wirken kann (vergl. Lebenskraft), durchweg die Gestalt
der Reproduktionskraft an. Darum geht die Bildung und
Ernährung der Teile, namentlich die Nutrition des Gehirns, aber
auch jedes Wachstum, jeder Ersatz, jede Heilung, also die Wirkung
der vis natura medicatrix in allen ihren Gestalten (vergl. unter Lebenskraft:
Die Lebenskraft als Heilkraft), besonders aber in wohltätigen
Krankheitskrisen, hauptsächlich im Schlafe vor sich. Dieserwegen ist
zur anhaltenden Gesundheit, folglich auch zur langen Lebensdauer eine
Hauptbedingung, dass man ununterbrochenen festen Schlafes konstant
genieße. Jedoch ist es nicht wohlgetan, ihn so viel wie möglich zu
verlängern; denn was er an Extension gewinnt, verliert er an Intension,
d. i. an Tiefe, gerade aber der tiefe Schlaf ist es, in welchem
die angeführten organischen Lebensprozesse am vollkommensten vollbracht
werden. (P. II, 175 fg. W. II, 276. P. I, 471.)
Die wohltätige Wirkung des tiefen Schlafes erreicht ihren höchsten
Grad im magnetischen, als welcher bloß der allertiefste ist, daher er
als das Panakeion vieler Krankheiten auftritt. (P. II, 176.)
3) Positiver Charakter des Schlafes.
Die Nutrition des Gehirns, also die Erneuerung seiner Substanz aus dem Blute, kann während des Wachens nicht vor sich gehen, indem die so höchst eminente, organische Funktion des Erkennens und Denkens von der so niedrigen und materiellen der Nutrition gestört oder aufgehoben werden würde. Hieraus erklärt sich, dass der Schlaf nicht ein rein negativer Zustand, bloßes Pausieren der Gehirntätigkeit ist, sondern zugleich einen positiven Charakter zeigt. Dieser gibt sich schon dadurch kund, dass zwischen Schlaf und Wachen kein bloßer Unterschied des Grades, sondern eine feste Grenze ist, welche, sobald der Schlaf eintritt, sich durch Traumbilder ankündigt, die unseren dicht vorhergegangenen Gedanken völlig heterogen sind. Ein fernerer Beleg desselben ist, dass wann wir beängstigende Träume haben, wir vergeblich bemüht sind, zu schreien, oder Angriffe abzuwehren, oder den Schlaf abzuschütteln; so dass es ist, als ob das Bindeglied zwischen dem großen und kleinen Gehirn (als dem Regulator der Bewegungen) ausgehoben wäre; denn das Gehirn bleibt in seiner Isolation, und der Schlaf hält uns wie mit ehernen Klauen fest. Endlich ist der positive Charakter des Schlafes daran ersichtlich, dass ein gewisser Grad von Kraft zum Schlafen erfordert ist; weshalb zu große Ermüdung, wie auch natürliche Schwäche, uns verhindern ihn zu erfassen, capere somnum. (W. II, 273 fg.)4) Verhältnis des Bedürfnisses des Schlafes zur Intensität des Gehirnlebens.
Das Bedürfnis des Schlafes steht in geradem Verhältnis zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewusstseins. Solche Tiere, deren Gehirnleben schwach und dumpf ist, schlafen wenig und leicht, z. B. Reptilien und Fische; wobei zu erinnern.ist, dass der Winterschlaf fast nur dem Namen nach ein Schlaf ist, nämlich nicht eine Inaktion des Gehirns allein, sondern des ganzen Organismus, also eine Art Scheintod. Tiere von bedeutender Intelligenz schlafen tief und lange. Auch Menschen bedürfen um so mehr Schlaf, je tätiger ihr Gehirn ist. Dass auch fortgesetzte Muskelanstrengung schläfrig macht, ist daraus zu erklären, dass bei dieser das Gehirn fortdauernd, mittelst der medulla oblongata, des Rückenmarks und der motorischen Nerven, den Muskeln den Reiz erteilt, der auf ihre Irritabilität wirkt, dasselbe also dadurch seine Kraft erschöpft; die Ermüdung, welche wir in Armen und Beinen spüren, hat demnach ihren eigentlichen Sitz im Gehirn. (W. II, 275 fg. P. I, 470 fg.)5) Wohltätige Wirkung des Schlafes nach der Mahlzeit.
Wie alle Funktionen des organischen Lebens, so geht auch die Verdauung im Schlafe, wegen des Pausierens der Gehirntätigkeit, leichter und schneller vor sich; daher ein kurzer Schlaf, von 10—15 Minuten, eine halbe Stunde nach der Mahlzeit wohltätig wirkt. Hingegen ist ein längerer Schlaf nachteilig und kann sogar gefährlich werden. (P. II, 176 fg.)6) Abnahme der Respiration im Schlafe.
(S. Atmen.)7) Unterschied und Verwandtschaft zwischen Schlaf und Tod.
Der Schlaf ist die Einstellung der animalischen Funktionen, der Tod die der organischen. (H. 352.)
Das an den individuellen Leib gebundene individuelle Bewusstsein
wird täglich durch den Schlaf gänzlich unterbrochen. Der tiefe Schlaf
ist vom Tode, in welchen er oft, z. B. beim Erfrieren, ganz stetig
übergeht, für die Gegenwart seiner Dauer, gar nicht verschieden, sondern
nur für die Zukunft, nämlich in Hinsicht auf das Erwachen.
Der Tod ist ein Schlaf, in welchem die Individualität vergessen wird;
alles Andere erwacht wieder, oder vielmehr ist wach geblieben. (W.
I, 327.)
Der Schlaf ist ein Stück Tod, welches wir antizipando borgen
und dafür das durch einen Tag erschöpfte Leben wieder erhalten und
erneuern. Der Schlaf borgt vom Tode zur Aufrechterhaltung des
Lebens. Oder: er ist der einstweilige Zins des Todes, welcher
selbst die Kapitalabzahlung ist. (P. I, 471.) Unser Leben ist anzusehen
als ein vom Tode erhaltenes Darlehen; der Schlaf ist der tägliche
Zins dieses Darlehens. (P. II, 292.)
Zwischen Schlaf und Tod ist kein radikaler Unterschied, sondern der
eine so wenig, wie der andere gefährdet das Dasein. Die Sorgfalt,
mit der das Insekt eine Zelle, oder Grube, oder Nest bereitet, sein
Ei hineinlegt, nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus
hervorgehende Larve, und dann ruhig stirbt, — gleicht ganz der
Sorgfalt, mit der ein Mensch am Abend sein Kleid und sein Frühstück
für den kommenden Morgen bereit legt und dann ruhig schlafen
geht, und könnte im Grunde gar nicht Statt haben, wenn nicht, an
sich und seinem wahren Wesen nach, das im Herbste sterbende Insekt
mit dem im Frühling auskriechenden eben so wohl identisch wäre, wie
der sich schlafen legende Mensch mit dem aufstehenden. Die Gattung
ist es, die allezeit lebt; der Tod ist für sie, was der Schlaf für das
Individuum. (W. II, 544—546.)