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Schopenhauers Kosmos

 

 Roman.

1) Kennzeichen des guten Romans.

Ein Roman wird desto höherer und edlerer Art sein, je mehr inneres und je weniger äußeres Leben er darstellt; und dies Verhältnis wird, als charakteristisches Zeichen, alle Abstufungen des Romans begleiten, vom Tristram Shandy an, der so gut wie gar keine Handlung hat, bis zum rohesten und tatenreichsten Ritter- und Räuberroman herab. — Die Kunst besteht darin, dass man mit dem möglichst geringsten Aufwand von äußerem Leben das innere in die stärkste Bewegung bringe; denn das innere ist der eigentliche Gegenstand unseres Interesses. — Die Aufgabe des Romanschreibers ist nicht, große Vorfälle zu erzählen, sondern kleine interessant zu machen. (P. II, 473 fg.)
So wie gute Maler zu ihren historischen Bildern wirkliche Menschen Modell stehen lassen und zu ihren Köpfen wirkliche, aus dem Leben gegriffene Gesichter nehmen, die sie sodann idealisieren; eben so machen es gute Romanschreiber; sie legen den Personen ihrer Fiktionen wirkliche Menschen aus ihrer Bekanntschaft schematisch unter, welche sie nun, ihren Absichten gemäß, idealisieren und komplettieren. (P. II, 473.)
Die gewöhnlichen, das große Publikum unterhaltenden und seinen Beifall findenden Romane aller Gattungen sind phantastischer Art. (Vergl. Phantast.)

2) Der Roman als Spiegel des Herzens.

Weil der Schmerz, nicht der Genuss das Positive ist, dessen Gegenwart sich fühlbar macht, und große lebhafte Freude sich schlechterdings nur denken lässt als Folge großer vorhergegangener Not, darum sind alle Dichter genötigt, ihre Helden in ängstliche und peinliche Lagen zu bringen, um sie daraus wieder befreien zu können. Drama und Epos schildern demnach durchgängig nur kämpfende, leidende, gequälte Menschen, und jeder Roman ist ein Guckkasten, darin man die Spasmen und Konvulsionen des geängstigten menschlichen Herzens betrachtet. (W. II, 658.)
Jeder Roman ist ein bloßes Kapitel aus der Pathologie des Geistes. (H. 371.)
Die bedeutende Rolle, welche die Geschlechtsliebe in den Romanen spielt, entspricht der Realität und Macht dieser Leidenschaft im Leben. Die Werter und Jacopo Ortis existieren nicht bloß im Romane, sondern jedes Jahr hat deren in Europa wenigstens ein halbes Dutzend aufzuweisen. (W. II, 606 fg. Vergl. unter Geschlechtsliebe: Realität und Macht dieser Leidenschaft.)

3) Die vier unsterblichen Romane.

Es gibt vier unsterbliche Romane, welche die Krone der ganzen Gattung bilden: Don Quixote, Tristram Shandy, die neue Heloise und der Wilhelm Meister. (P. II, 474. H. 49. M. 187.)

4) Schädlicher Einfluss der gewöhnlichen Romane auf die Jugend.

Der Knabe und Jüngling hat in der für das praktische Leben so wichtigen Erkenntnis, wie es eigentlich in der Welt hergeht, als Neuling die ersten und schwersten Lektionen zu lernen. Diese schon an sich bedeutende Schwierigkeit der Sache wird nun noch verdoppelt durch die Romane, als welche einen Hergang der Dinge und des Verhaltens der Menschen darstellen, wie er in der Wirklichkeit eigentlich nicht Statt findet. Dieser nun aber wird mit der Leichtgläubigkeit der Jugend aufgenommen und dem Geiste einverleibt, wodurch jetzt an die Stelle bloß negativer Unkunde ein ganzes Gewebe falscher Voraussetzungen als positiver Irrtum tritt, welcher nachher sogar die Schule der Erfahrung selbst verwirrt und ihre Lehren in falschem Lichte erscheinen lässt. Durch die Romane werden in der Jugend Erwartungen erregt, die nie erfüllt werden können. Dies hat meistens den nachteiligsten Einfluss auf das ganze Leben. (Vergl. auch Phantast.) Entschieden im Vorteil stehen hier die Menschen, welche in ihrer Jugend zum Romanlesen keine Zeit oder Gelegenheit gehabt haben. Wenige Romane sind von obigem Vorwurf auszunehmen, ja, wirken eher in entgegengesetztem Sinne, z. B. Gil Blas, ferner auch Vicar of Wakefield und zum Teil die Romane Walter Scott’s. Der Don Quixote kann als eine satirische Darstellung jenes Irrweges selbst angesehen werden. (P. II, 669.)
Die richtige Erziehungsmethode erfordert, dass man keine Romane zu lesen erlaube, sondern sie durch angemessene Biographien ersetze, wie z. B. die Franklin’s, den Anton Reiser von Moritz u. dgl. (P. I, 513.)

5) Einfluss des Romanlesens auf das Gedächtnis.

Menschen, die unablässig Romane lesen, verlieren dadurch ihr Gedächtnis, weil bei ihnen die Menge von Vorstellungen, die hier aber nicht eigene Gedanken und Kombinationen, sondern fremde, rasch vorüberziehende Zusammenstellungen sind, zur Wiederholung und Übung keine Zeit, noch Geduld lässt. (G. 148.)