rel='stylesheet' type='text/css'>
Schopenhauers Kosmos

 

 Geschlechtsliebe.

1) Realität und Macht dieser Leidenschaft.

Die Geschlechtsliebe spielt nicht bloß in Schauspielen und Romanen, sondern, wie die Erfahrung bestätigt, auch in der wirklichen Welt eine so bedeutende Rolle, dass die bei einigen Schriftstellern vorkommende Leugnung der Realität und Wichtigkeit dieser Leidenschaft ein großer Irrtum ist. Die Erfahrung zeigt, dass die Geschlechtsliebe unter Umständen zu einer Leidenschaft anwachsen kann, die an Heftigkeit jede andere übertrifft und dann alle Rücksichten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher Kraft und Ausdauer überwindet, so dass für ihre Befriedigung unbedenklich das Leben gewagt, ja, wenn solche schlechterdings versagt bleibt, in den Kauf gegeben wird. Die Geschlechtsliebe erweist sich, nächst der Liebe zum Leben, als die stärkste und tätigste aller Triebfedern, nimmt die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngeren Teiles der Menschheit fortwährend in Anspruch, ist das letzte Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens, erlangt auf die wichtigsten Angelegenheiten nachteiligen Einfluss, unterbricht die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde, setzt bisweilen selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung, zettelt täglich die verworrensten und schlimmsten Händel an, löst die wertvollsten Verhältnisse auf, zerreißt die festesten Bande, nimmt bisweilen Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichtum, Rang und Glück zu ihrem Opfer, ja macht den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräter, tritt demnach im Ganzen auf als ein feindseliger Dämon. (W. II, 606—609. 631 fg.)
Nicht allein die unbefriedigte verliebte Leidenschaft hat bisweilen einen tragischen Ausgang, sondern auch die befriedigte führt öfter zum Unglück als zum Glück. Denn ihre Anforderungen kollidieren oft so sehr mit der persönlichen Wohlfahrt des Beteiligten, dass sie solche untergraben, indem sie mit seinen übrigen Verhältnissen unvereinbar sind und den darauf gebauten Lebensplan zerstören. Ja, nicht allein mit den äußeren Verhältnissen ist die Liebe oft im Widerspruch, sondern sogar mit der eigenen Individualität, indem sie sich auf Personen wirft, welche, abgesehen vom Geschlechtsverhältnis dem Liebenden verhasst, ja zum Abscheu sein würden. Aber so sehr viel mächtiger ist der Wille der Gattung als der des Individuums, dass der Liebende in seiner Verblendung alle jene ihm widerlichen Eigenschaften übersieht. — In der Tat führt der Genius der Gattung durchweg Krieg mit den schützenden Genien der Individuen, ist ihr Verfolger und Feind, stets bereit, das persönliche Glück schonungslos zu zerstören, um seine Zwecke durchzusetzen; ja, das Wohl ganzer Nationen ist bisweilen das Opfer seiner Laune geworden. Dies Alles beruht darauf, dass die Gattung, als in welcher die Wurzel unseres Wesens liegt, ein näheres und früheres Recht auf uns hat, als das Individuum; daher ihre Angelegenheiten vorgehen. (W. II, 634—638.)

2) Wurzel und Bedeutung derselben.

Auf der metaphysischen Identität des Willens, als des Dinges an sich, bei der zahllosen Vielheit seiner Erscheinungen, beruhen drei Phänomene, welche man unter den gemeinsamen Begriff der Sympathie bringen kann: l) das Mitleid (caritas), die Basis der Gerechtigkeit und Menschenliebe; 2) die Geschlechtsliebe mit eigensinniger Auswahl (amor), welche das Leben der Gattung ist, das seinen Vorrang vor dem der Individuen geltend macht; 3) die Magie. (W. II, 689.)
Alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, spezialisierter, wohl gar im strengsten Sinne individualisierter Geschlechtstrieb. (W. II, 608.) Es ist keine Kleinigkeit, um die es sich hier handelt. Der Endzweck aller Liebeshändel ist wirklich wichtiger, als alle anderen Zwecke im Menschenleben und daher des tiefen Ernstes womit jeder ihn verfolgt, völlig wert. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres, als die Zusammensetzung der nächsten Generation. Wie das Sein, die Existentia unserer Nachkommen durch unseren Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, die Essentia derselben durch die individuelle Auswahl bei seiner Befriedigung, d. i. die Geschlechtsliebe, durchweg bedingt und wird dadurch unwiderruflich festgestellt. Es handelt sich also in den Liebesangelegenheiten nicht, wie in allen übrigen Angelegenheiten, um individuelles Wohl und Wehe, sondern um das Dasein und die spezielle Beschaffenheit des Menschengeschlechts in künftigen Zeiten, und daher tritt hier der Wille des Einzelnen in erhöhter Potenz, als Wille der Gattung auf. Die künftige Generation, in ihrer ganzen individuellen Bestimmtheit, ist es, die sich, mittelst des ganzen Treibens und Mühens Verliebter um Erlangung des geliebten Gegenstandes, ins Dasein drängt. Ja, sie selbst regt sich schon in der so umsichtigen, bestimmten und eigensinnigen Auswahl zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, die man Liebe nennt. (W. II, 608—612. 627.)

3) Grade derselben.

Die Leidenschaft der Liebe hat unzählige Grade, deren beide Extreme man als Αφροδιτη πανδημος und ουρανια bezeichnen mag; dem Wesen nach ist sie jedoch überall die selbe. Hingegen dem Grade nach wird sie um so mächtiger sein, je individualisierter sie ist. Die höchsten Grade entspringen aus derjenigen Angemessenheit beider Individualitäten zu einander, vermöge welcher der Charakter des Vaters und der Intellekt der Mutter, in ihrer Verbindung, gerade dasjenige Individuum vollenden, nach welchem der Wille zum Leben als Gattungswille eine das Maß eines sterblichen Herzens übersteigende Sehnsucht empfindet. Je vollkommener die gegenseitige Angemessenheit zweier Individuen zu einander in jeder der mannigfachen Rücksichten, die hier walten, ist, desto stärker wird ihre gegenseitige Leidenschaft ausfallen. (W. II, 612 fg. 628.)
Je mehr Geist, desto bestimmtere Individualität, daher desto bestimmtere Forderungen an die dieser entsprechende Individualität des anderen Geschlechts; woraus folgt, dass geistreiche Individuen sich besonders zu leidenschaftlicher Liebe eignen. (H. 408.)

4) Die Rolle des Instinkts in der Geschlechtsliebe.

Aller Geschlechtsliebe liegt ein durchaus auf das zu Erzeugende gerichteter Instinkt zum Grunde. Die Natur pflanzt überhaupt den Instinkt da ein, wo das handelnde Individuum den Zweck zu verstehen unfähig, oder ihn zu verfolgen unwillig sein würde. Daher pflanzt sie ihn in dem hier betrachteten Fall auch dem Menschen ein, als welcher den Zweck zwar verstehen könnte, ihn aber nicht mit dem nötigen Eifer, nämlich sogar auf Kosten seines individuellen Wohls, verfolgen würde. Also nimmt hier, wie bei allem Instinkt, die Wahrheit die Gestalt des Wahns an, um auf den Willen zu wirken. Um das Individuum, welches vermöge des tief in ihm wurzelnden Egoismus nur für egoistische Zwecke empfänglich ist, für den Bestand und die Beschaffenheit der Gattung in Tätigkeit zu setzen und sogar der Opfer für den Gattungszweck fähig zu machen, musste die Natur dem Individuum einen gewissen Wahn einpflanzen, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so dass dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist in den meisten Fällen anzusehen als der Sinn der Gattung, welcher aber das ihr Frommende nur durch die Täuschung des Individuums, dass es individuellen Zwecken nachzugehen wähnt, während es in Wahrheit bloß generelle verfolgt, erreichen kann.
In Folge des Instinkts wirkt bei der geschlechtlichen Auswahl vor allen Dingen die Rücksicht auf Schönheit des anderen Individuums, als durch welche der Typus der Gattung möglichst rein und richtig erhalten wird. Das schwindelnde Entzücken, welches den Mann beim Anblick eines Weibes von ihm angemessener Schönheit ergreift und ihm die Vereinigung mit ihr als das höchste Gut vorspiegelt, ist eben der Sinn der Gattung, welcher, den deutlich ausgedrückten Stempel derselben erkennend, sie mit diesem perpetuieren möchte. Nächst der Schönheit begehrt (in Folge des Instinkts) Jeder besonders heftig diejenigen Vollkommenheiten am anderen Individuum, welche ihm selbst abgehen, ja sogar die Unvollkommenheiten, welche das Gegenteil seiner eigenen sind. (W. II, 614—618.)
Die instinktiv leitenden Rücksichten, welche bei dem geschlechtlichen Wohlgefallen und der geschlechtlichen Auswahl walten, zerfallen in solche, welche unmittelbar den Typus der Gattung, d. i. die Schönheit betreffen, in solche, welche auf psychische Eigenschaften gerichtet sind, und endlich in bloß relative, welche aus der erforderten Korrektion oder Neutralisation der Einseitigkeiten und Abnormitäten der beiden Individuen durch einander hervorgehen. (W. II, 619—627. M. 390 fg.)

5) Unabhängigkeit der Geschlechtsliebe von der Freundschaft.

Weil die verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu Erzeugende und dessen Eigenschaften dreht, kann zwischen zwei jungen Leuten verschiedenen Geschlechts, vermöge der Übereinstimmung ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer Geistesrichtung, Freundschaft bestehen, ohne dass Geschlechtsliebe sich einmischte; ja sogar kann in dieser Hinsicht eine gewisse Abneigung zwischen ihnen vorhanden sein. Der Grund hiervon ist, dass ein von ihnen erzeugtes Kind körperlich oder geistig disharmonierende Eigenschaften haben, kurz, seine Existenz und Beschaffenheit den Zwecken des Willens zum Leben, wie er sich in der Gattung darstellt, nicht entsprechen würde. Im entgegengesetzten Fall kann, bei Heterogenität der Gesinnung, des Charakters und der Geistesrichtung, und bei der daraus hervorgehenden Abneigung, ja Feindseligkeit, doch die Geschlechtsliebe aufkommen und bestehen; wo sie dann über jenes Alles verblendet; verleitet sie hier zur Ehe, so wird es eine sehr unglückliche. (W. II, 613 fg.)

6) Das Erhabene und Komische in der Geschlechtsliebe.

Das Verliebtsein eines Menschen liefert oft komische, mitunter auch tragische Phänomene; Beides, weil er, vom Geiste der Gattung in Besitz genommen, jetzt von diesem beherrscht wird und nicht mehr sich selber angehört. Dadurch wird sein Handeln dem Individuum unangemessen. Was, bei den höheren Graden des Verliebtseins, seinen Gedanken einen so poetischen und erhabenen Anstrich, sogar eine transzendente und hyperphysische Richtung gibt, vermöge welcher er seinen eigentlichen, sehr physischen Zweck ganz aus den Augen zu verlieren scheint, ist im Grunde Dieses, dass er jetzt vom Geiste der Gattung, dessen Angelegenheiten unendlich wichtiger, als alle bloß individuellen sind, beseelt ist. Das Gefühl, in Angelegenheiten von so transzendenter Wichtigkeit zu handeln, ist es, was den Verliebten so hoch über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebt und seinen sehr physischen Wünschen eine so hyperphysische Einkleidung gibt, dass die Liebe eine poetische Episode sogar im Leben des prosaischsten Menschen wird; in welchem letzteren Falle die Sache bisweilen einen komischen Anstrich gewinnt. — Der Verliebte sucht im Grunde nicht seine Sache, sondern die eines Dritten, der erst entstehen soll; wiewohl ihn der Wahn umfängt, als wäre was er sucht seine Sache. Aber gerade dieses Nicht-seine-Sache-suchen, welches überall der Stempel der Größe ist, gibt auch der leidenschaftlichen Liebe den Anstrich des Erhabenen und macht sie zum würdigen Gegenstande der Dichtung. (W. II, 633 fg.)