Poet.
1) Die Quelle, aus welcher der Dichter schöpft.
Wie der bildende Künstler nicht der Natur die Schönheit ablernt, sondern eine Art von Erkenntnis a priori davon hat, eine Antizipation dessen, was die Natur hervorbringen will, vermöge deren er sie auf halbem Worte versteht und vollkommen darstellt, was ihr meistens misslingt (vergl. Antizipation); eben so ist auch die Kenntnis des Dichters von den Charakteren und dem aus diesen hervorgehenden Benehmen keineswegs rein empirisch, sondern auch antizipierend und gewissermaßen a priori. Der Dichter ist selbst ein ganzer und vollständiger Mensch, er trägt die ganze Menschheit in sich und hat die Besonnenheit, sich dessen klar bewusst zu werden. Dadurch hat er eine Kenntnis des Menschen überhaupt und weiß Das, was vom Menschen überhaupt gilt, zu sondern von Dem, was nur seiner eigenen Individualität angehört. Daher kann er in seiner Phantasie sein eigenes Wesen, sofern es das Wesen der Menschheit überhaupt ist, modifizieren zu den verschiedensten Individualitäten, diese also auf solche Weise a priori konstruieren und sie dann den Umständen gemäß handeln lassen, in die er sie versetzt. Deshalb kann er darstellen, was er nie gesehen hat. Dennoch trägt eigene reiche Erfahrung viel bei zur Bildung des Dichters. Sie wirkt wenigstens als Anregung der inneren Erkenntnis und liefert Schemata zu bestimmten Charakterzeichnungen. (H. 366—368.)2) Grade der dichterischen Begabung.
Um uns die Ideen zu offenbaren und an einem Beispiel zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei, dazu ist die erste Bedingung, dass der Dichter es selbst erkannt habe; je nachdem dies tief oder flach geschehen ist, wird seine Dichtung ausfallen. Demgemäß gibt es unzählige Abstufungen, wie der Tiefe und Klarheit in der Auffassung der Natur der Dinge, so der Dichter. Der beste erkennt sich als solcher daran, dass er sieht, wie flach der Blick der anderen war, wie Vieles noch dahinter lag, das sie nicht wiedergeben konnten, weil sie es nicht sahen, und wie viel weiter sein Blick und sein Bild reicht. (W. II, 484.)3) Kennzeichen des großen und echten Dichters.
Alle großen Dichter haben die Gabe der Anschaulichkeit, weil sie von Anschauungen ihrer Phantasie ausgehen, nicht von Begriffen, wie die Nachahmer. Aber am wunderbarsten wird jene Gabe da, wo sie uns Dinge anschauen lässt, die wir nicht aus der Wirklichkeit kennen, weil sie in der Natur nicht vorkommen, und also auch der Dichter selbst sie nicht in der Wirklichkeit gesehen hat, er sie aber dennoch so schildert, dass wir fühlen, wenn Dergleichen möglich wäre, so müsste es so und nicht anders aussehen. Hierin ist einzig Dante. (H. 363 fg.)
Sobald man vom Begriff ausgeht und räsoniert und von ihm
geleitet etwa Antithesen und Kontraste sucht, ist man unredlich und
unwahr (kokett statt begeistert). Aber allein, wenn man stets von der
Anschauung ausgeht, ist man durchgängig wahr und redlich und
darum unsterblich; denn nur dann ist man reines willenloses Subjekt
des Erkennens. So machte es Shakespeare. Die Beispiele von
der ersteren Sorte heißen Legion. (H. 369.)
Ein Zeichen, woran man am unmittelbarsten den echten Dichter erkennt,
ist die Ungezwungenheit seiner Reime; sie haben sich, wie durch
göttliche Schickung, von selbst eingefunden; seine Gedanken kommen
ihm schon in Reimen. Der heimliche Prosaiker hingegen sucht zum
Gedanken den Reim; der Pfuscher zum Reim den Gedanken. Sehr
oft kann man aus einem gereimten Verspaar herausfinden, welcher
von beiden den Gedanken, und welcher den Reim zum Vater hat.
(W. II, 489.)