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Schopenhauers Kosmos

 

 Antizipation.

Antizipation in der Natur.

Die Instinkte der Tiere und das Wirken der Natur im Hervorbringen organischer Körper erläutern einander wechselseitig in mancher Hinsicht (s. Instinkt), besonders auch in Hinsicht der Antizipation des Zukünftigen, die in Beiden hervortritt. Mittelst der Instinkte und Kunsttriebe sorgen die Tiere für die Befriedigung solcher Bedürfnisse, die sie noch nicht fühlen, ja, nicht nur der eigenen, sondern sogar der ihrer künftigen Brut; sie arbeiten also auf einen ihnen noch unbekannten Zweck hin. Dies geht so weit, dass sie z. B. die Feinde ihrer künftigen Eier schon zum voraus verfolgen und töten. Ebenso nun sehen wir in der ganzen corporisation eines Tieres seine künftigen Bedürfnisse, seine einstigen Zwecke durch die organischen Werkzeuge zu ihrer Erreichung und Befriedigung antizipiert, woraus denn jene vollkommene Angemessenheit des Baues jedes Tieres zu seiner Lebensweise, jene Ausrüstung desselben mit den ihm nötigen Waffen zum Angriff seiner Beute und zur Abwehr seiner Feinde, und jene Berechnung seiner ganzen Gestalt auf das Element und die Umgebung, in welcher er als Verfolger aufzutreten hat, hervorgeht, welche in der Schrift Über den Willen in der Natur, unter der Rubrik Vergleichende Anatomie ausführlich geschildert worden ist.
Alle diese, sowohl im Instinkt als in der Organisation hervortretenden Antizipationen könnten wir unter den Begriff einer Erkenntnis a priori bringen, wenn denselben überhaupt eine Erkenntnis zu Grunde läge. Allein ihr Ursprung liegt tiefer, als das Gebiet der Erkenntnis, nämlich im Willen als dem Dinge an sich, der als solcher auch von den Formen der Erkenntnis frei bleibt; daher in Hinsicht auf ihn die Zeit keine Bedeutung hat, mithin das Zukünftige ihm so nahe liegt wie das Gegenwärtige. (W. II, 397 fg.)

2) Antizipation in der Kunst.

Der Künstler kann das Schöne nicht durch bloße Nachahmung der Natur erreichen; denn woran soll er ihr gelungenes und nachzuahmendes Werk erkennen und es unter den misslungenen herausfinden, wenn er nicht vor der Erfahrung das Schöne antizipiert? — Rein a posteriori aus bloßer Erfahrung, ist gar keine Erkenntnis des Schönen möglich; sie ist immer, wenigstens zum Teil, a priori. Wir haben eine Antizipation Dessen, was die Natur darzustellen sich bemüht, welche Antizipation im echten Genius von dem Grade der Besonnenheit begleitet ist, dass er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt. Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule der Skulptur aufstellen; und auch allein vermöge einer solchen Antizipation ist es uns Allen möglich, das Schöne da, wo es der Natur im Einzelnen wirklich gelungen ist, zu erkennen. Diese Antizipation ist das Ideal; es ist die Idee, sofern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird. (W. I, 262.)
Die Möglichkeit solcher Antizipation des Schönen a priori im Künstler, wie seiner Anerkennung a posteriori im Kenner, liegt darin, dass Künstler und Kenner das Ansich der Natur, der sich objektivierende Wille, selbst sind. Denn nur vom Gleichen wird das Gleiche erkannt; nur Natur kann sich selbst verstehen. Wir könnten nicht antizipieren, was für eine Gestalt, was für eine Körperform die Natur gewollt hat, wenn wir nicht selbst der Wille wären, dessen Objektivation wir ästhetisch auffassen und beurteilen. (W. I, 262.)
Wie in der bildenden Kunst, so wirkt auch in der Dichtkunst die Antizipation, nur mit dem Unterschiede, dass es dort das Schöne, hier das Charakteristische ist, was sie antizipiert. So wenig die Griechen das Ideal menschlicher Schönheit empirisch zusammengelesen haben, ebenso wenig hat ein Shakespeare die mannigfaltigen, so wahren, so gehaltenen, so aus der Tiefe herausgearbeiteten Charaktere seiner Dramen aus der eigenen Erfahrung im Weltleben sich gemerkt und wiedergegeben. (W. I, 263.)
Um jedoch das Antizipierte, das a priori dunkel Bewusste, zur vollen Deutlichkeit zu bringen und es besonnen darstellen zu können, bedarf sowohl der bildende Künstler, als der Dichter, der Erfahrung als eines Schemas. (W. I, 263.)