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Schopenhauers Kosmos

 

 Aberglaube.

1) Das Wort Aberglaube.

Die Worte Aberglauben und Aberwitz sind wahrscheinlich entsprungen aus Überglauben und Überwitz, unter Vermittlung von Oberglauben und Oberwitz (wie Überrock—Oberrock, Überhand—Oberhand) und sodann durch Korruption des O in A, wie umgekehrt in Argwohn statt Argwahn. (P. II, 610.)

2) Quelle des Aberglaubens

Durch die Vernunft dem Gedanken zugänglich geworden, steht der Mensch auch dem Irrtum und damit dem Wahn, dem Aberglauben offen (s. Irrtum). Denn in den Gedanken, den abstrakten Begriff geht alles nur Ersinnliche, mithin auch das Falsche, das Unmögliche, das Absurde, das Unsinnige. Da nun Vernunft Allen, Urteilskraft Wenigen zu Teil geworden ist, so ist die Folge, dass der Mensch dem Wahn offen steht, indem er allen nur erdenklichen Chimären Preis gegeben ist, wovon die superstitiösen Dogmen und Kultushandlungen der verschiedenen Religionen zahlreiche und auffallende Beispiele liefern. (W. II, 73—75.)

3) Aberglaube, dem wahrer Glaube zu Grunde liegt.

Der Glaube an geheimnisvolle übernatürliche Wirkungen, an Sympathie und Magie, an Geistererscheinungen, omina u. s. w. ist nicht schlechthin als Aberglauben zu verwerfen, wiewohl er beim Volke stark mit Aberglauben vermischt vorkommt. Es liegt allem diesen Glauben metaphysische Wahrheit zu Grunde. Um über alle geheime Sympathie oder gar magische Wirkung vorweg zu lächeln, muss man die Welt gar sehr, ja ganz und gar begreiflich finden. Das kann man aber nur, wenn man mit überaus flachem Blick in sie hineinschaut, der keine Ahndung davon zulässt, dass wir in ein Meer von Rätseln und Unbegreiflichkeiten versenkt sind und unmittelbar weder die Dinge noch uns selbst von Grund aus kennen und verstehen. Die dieser Gesinnung entgegengesetzte ist es eben, welche macht, dass fast alle große Männer, unabhängig von Zeit und Nation, einen gewissen Anstrich von Aberglauben verraten haben. (N. 109.)
Der Gespensterglaube ist dem Menschen angeboren; er findet sich zu allen Zeiten und in allen Ländern, und vielleicht ist kein Mensch ganz frei davon. Der große Haufen und das Volk, wohl aller Länder und Zeiten, unterscheidet Natürliches und Übernatürliches, als zwei grundverschiedene, jedoch zugleich vorhandene Ordnungen der Dinge. Dem Übernatürlichen schreibt er Wunder, Weissagungen, Gespenster und Zauberei unbedenklich zu, lässt aber überdies auch wohl gelten, dass überhaupt nichts durch und durch bis auf den letzten Grund natürlich sei, sondern die Natur selbst auf einem Übernatürlichen beruhe. Im Wesentlichen fällt nun diese populäre Unterscheidung zusammen mit der Kantischen zwischen Erscheinung und Ding an sich; nur dass diese die Sache genauer und richtiger bestimmt, nämlich dahin, dass Natürliches und Übernatürliches nicht zwei verschiedene und getrennte Arten von Wesen sind, sondern Eines und Dasselbe, welches an sich genommen übernatürlich zu nennen ist, weil erst, indem es erscheint, d. h. in die Wahrnehmung unseres Intellekts tritt und daher in dessen Formen eingeht, die Natur sich darstellt, deren phänomenale Gesetzmäßigkeit es eben ist, die man unter dem Natürlichen versteht. (P. I, 284 fg.)
Wie dem Gespensterglauben, so liegt auch dem Glauben an Omina, der so allgemein und unvertilgbar ist, dass er selbst in den überlegensten Köpfen nicht selten Raum gefunden hat, Wahrheit zu Grunde. Denn da nichts absolut zufällig ist, vielmehr Alles notwendig eintritt und sogar die Gleichzeitigkeit selbst des kausal nicht Zusammenhängenden, die man den Zufall nennt, eine notwendige ist, indem ja das jetzt Gleichzeitige schon durch Ursachen in der entferntesten Vergangenheit als ein solches bestimmt wurde; so spiegelt sich Alles in Allem, klingt Jedes in Jedem wieder. Der unvertilgbare Hang des Menschen, auf Omina zu achten, seine extispicia und ορνιθοσκοπια, sein Bibelaufschlagen, sein Kartenlegen, Bleigießen, Kaffeesatzbeschauen u. dgl. zeugen von seiner den Vernunftgründen trotzenden Voraussetzung, dass es irgendwie möglich sei, aus dem ihm Gegenwärtigen und klar vor Augen Liegenden das durch Raum oder Zeit Verborgene, also das Entfernte oder Zukünftige zu erkennen, sodass er wohl aus Jenem Dieses ablesen könnte, wenn er nur den wahren Schlüssel der Geheimschrift hätte. (P. I, 230 fg.) Auf der, wenn auch nicht deutlich erkannten, doch gefühlten Überzeugung von der strengen Notwendigkeit alles Geschehenden beruht die bei den Alten so fest stehende Ansicht vom Fatum, der ειμαρμενη, wie auch der Fatalismus der Mohammedaner, sogar auch der überall unvertilgbare Glaube an Omina, weil eben selbst der kleinste Zufall notwendig eintritt und alle Begebenheiten, so zu sagen, miteinander Tempo halten, mithin Alles in Allem wiederklingt. Endlich hängt sogar dies damit zusammen, dass, wer ohne die leiseste Absicht und ganz zufällig einen Anderen verstümmelt oder getötet hat, dieses Piaculum sein ganzes Leben hindurch betrauert, mit einem Gefühl, welches dem der Schuld verwandt scheint, und auch von Andern als persona piacularis (Unglücksmensch) eine eigene Art von Diskredit erfährt. (E. 60 fg.)
Wendet man die Übereinstimmung zwischen dem Mechanismus und der Technik der Natur, oder dem nexus effectivus und dem nexus finalis, demzufolge die Naturprodukte sich ebenso rein kausal als teleologisch erklären lassen (s. Teleologie), auf den Lebenslauf des Menschen an, so wird die Möglichkeit der omina, praesagia, portenta begreiflich. Das, was nach dem Laufe der Natur notwendig eintritt, ist alsdann doch andererseits wieder anzusehen als für den Lebenslauf des Einzelnen berechnet, bloß in Bezug auf ihn geschehend und existierend; wonach dann das Natürliche und ursächlich nachweisbar Notwendige eines Ereignisses das Ominöse desselben keineswegs aufhöbe und ebenso dieses nicht jenes. Daher sind Die ganz auf dem Irrwege, welche das Ominöse eines Ereignisses dadurch zu beseitigen vermeinen, dass sie die Unvermeidlichkeit seines Eintritts dartun, indem sie die natürlichen und notwendig wirkenden Ursachen desselben nachweisen. Denn an diesen zweifelt kein vernünftiger Mensch, und für ein Mirakel will Keiner das Omen ausgeben; sondern gerade daraus, dass die ins Unendliche hinaufreichende Kette der Ursachen und Wirkungen mit der ihr eigenen, strengen Notwendigkeit und unvordenklichen Prädestination den Eintritt dieses Ereignisses in solchem bedeutsamen Augenblick unvermeidlich festgestellt hat, erwächst demselben das Ominöse (P. I, 236 fg. W. II, 384.) Andererseits jedoch sehen wir mit dem Glauben an die Omina auch der Astrologie wieder die Tür geöffnet, da die geringste als ominös geltende Begebenheit durch eine ebenso unendlich lange und ebenso streng notwendige Kette von Ursachen bedingt ist, wie der berechenbare Stand der Gestirne zu einer gegebenen Zeit. (P. I, 236.)