Todesfurcht.
1) Ursprung der Todesfurcht.
Die Furcht vor dem Tode entspringt keineswegs aus der Erkenntnis, in welchem Fall sie das Resultat des erkannten Wertes des Lebens sein würde, sondern sie hat ihre Wurzel unmittelbar im Willen, aus dessen ursprünglichem Wesen, welches blinder Wille zum Leben ist, sie hervorgeht. Die Todesfurcht ist von aller Erkenntnis unabhängig; denn das Tier hat sie, obwohl es den Tod nicht kennt. Alles, was geboren wird, bringt sie schon mit auf die Welt. Diese Todesfurcht a priori ist aber eben nur die Kehrseite des Willens zum Leben, welcher wir Alle ja sind. Daher ist jedem Tiere, wie die Sorge für seine Erhaltung, so die Furcht vor seiner Zerstörung angeboren. Das Tier flieht, zittert und sucht sich zu verbergen, weil es lauter Wille zum Leben, als solcher aber dem Tode verfallen ist und Zeit gewinnen möchte. Eben so ist von Natur der Mensch. Das größte der Übel, das Schlimmste, was überall gedroht werden kann, ist der Tod, die größte Angst Todesangst. Die hierin hervortretende Grenzenlose Anhänglichkeit an das Leben kann nun aber nicht aus Erkenntnis und Überlegung entsprungen sein, vor der sie vielmehr töricht erscheint, da es um den objektiven Wert des Lebens sehr misslich steht, überdies ja das Leben jedenfalls bald enden muss. Jene mächtige Anhänglichkeit an das Leben ist mithin eine unvernünftige und blinde, nur daraus erklärlich, dass unser ganzes Wesen an sich schon Wille zum Leben ist, und dass dieser Wille an sich und ursprünglich erkenntnislos und blind ist. Die Erkenntnis hingegen, weit entfernt, der Ursprung jener Anhänglichkeit an das Leben zu sein, wirkt ihr sogar entgegen, indem sie die Wertlosigkeit desselben aufdeckt und hierdurch die Todesfurcht bekämpft. (W. II, 529 fg.) Dem Willen ist die Todesfurcht wesentlich, weil er Wille zum Leben ist, dessen ganzes Wesen im Drange nach Leben und Dasein besteht, dem die Erkenntnis nicht ursprünglich, sondern erst in Folge seiner Objektivation in animalischen Individuen beiwohnt. Wenn er nun mittelst ihrer den Tod als das Ende der Erscheinung, mit der er sich identifiziert hat und also auf sie sich beschränkt sieht, ansichtig wird, sträubt sich sein ganzes Wesen mit aller Gewalt dagegen. (W. II, 533.) Im Individuum allein liegt das unmittelbare Bewusstsein; deshalb wähnt es sich von der Gattung verschieden, und darum fürchtet es den Tod. Der Wille zum Leben manifestiert sich in Beziehung auf das Individuum als Hunger und Todesfurcht, in Beziehung auf die Spezies als Geschlechtstrieb und leidenschaftliche Sorge für die Brut. (W. II, 552. 568 fg. 572.)
Beiläufig gesagt, mag die Todesfurcht zum Teil auch darauf beruhen,
dass der individuelle Wille so ungern sich von seinem durch den
Naturlauf ihm zugefallenen Intellekt trennt, von seinem Führer und
Wächter, ohne den er sich hilflos und blind weiß. (W. II, 571.)
Die Sichtbarkeit der Dinge, diese allein unschuldige Seite der
Welt, die reine Vorstellung, in welcher die gesonderten und mannigfaltigen
Formen, in denen der Wille sich manifestiert, so deutlich und
bedeutungsvoll dastehen, dies alles ist so schön, dass es uns ans Dasein
als an den Ort der Helle und Deutlichkeit fesseln muss; und wir
schaudern vor dem Tode vielleicht hauptsächlich, weil er dasteht als die
Finsternis, aus der wir einst hervorgetreten, und in die wir nun zurückfallen.
Aber, wann der Tod unsere Augen schließt, werden wir
wahrscheinlich in einem Lichte stehen, von welchem unser Sonnenlicht
nur der Schatten ist. (H. 413.)
2) Der höhere, die Todesfurcht überwindende Standpunkt.
Die das principium individuationis durchschauende Erkenntnis setzt uns in Stand, die Todesfurcht zu überwinden. (E. 273. W. I, 324—326. — Vergl. über die Durchschauung des principii individuationis Individuation.) Wo das Gefühl uns hilflos preis gibt, kann die Vernunft eintreten und die widrigen Eindrücke desselben großenteils überwinden, indem sie uns auf einen höheren Standpunkt stellt, wo wir statt des Einzelnen nunmehr das Ganze im Auge haben. Darum könnte die philosophische Erkenntnis, dass Jeder nur als Erscheinung vergänglich, hingegen als Ding an sich zeitlos, also auch endlos ist, dass er nur als Erscheinung von den übrigen Dingen der Welt verschieden, als Ding an sich aber der Wille ist, der in Allem erscheint und der vom Tode des Einzelnen nicht berührt wird, die Schrecken des Todes überwinden, in dem Maße, als im gegebenen Individuum die Reflexion Macht hätte über das unmittelbare Gefühl. (W. I, 333. fg.)
Jeder, dessen Geist nicht von der ganz gemeinen, schlechterdings nur
auf Erkenntnis des Einzelnen beschränkten Art ist, jeder, der durch eine
nur etwas höher potenzierte Fähigkeit auch bloß anfängt, in den Einzelwesen
ihr Allgemeines, ihre Ideen, zu erblicken, wird auch der Überzeugung,
dass durch den Tod das innere Wesen des Individuums nicht
mitgetroffen wird, dass überhaupt Entstehen und Vergehen nur ein
oberflächliches Phänomen ist und keineswegs an die Wurzel der Dinge
greift, in gewissem Grade teilhaft werden. In der Tat sind es auch
nur die kleinen, beschränkten Köpfe, welche ganz ernstlich den Tod als
ihre Vernichtung fürchten; aber vollends von den entschieden Bevorzugten
bleiben solche Schrecken gänzlich fern. (W. II, 541 fg.)
3) Verächtlichkeit der Todesfurcht und Erhabenheit des Todesmutes.
Wenn die Erkenntnis in der Bekämpfung der Todesfurcht über den Willen zum Leben siegt und demnach der Mensch dem Tode mutig und gelassen entgegengeht, so wird dies als groß und edel geehrt; wir feiern also dann den Triumph der Erkenntnis über den blinden Willen zum Leben, der doch der Kern unseres eigenen Wesens ist. Imgleichen verachten wir Den, in welchem die Erkenntnis in jenem Kampfe unterliegt, der daher dem Leben unbedingt anhängt. Wie könnte, lässt sich hier beiläufig fragen, die Grenzenlose Liebe zum Leben und das Bestreben, es auf alle Weise so lange als möglich zu erhalten, als niedrig und verächtlich betrachtet werden, wenn dasselbe das mit Dank zu erkennende Geschenk gütiger Götter wäre? Und wie könnte sodann die Geringschätzung desselben groß und edel erscheinen? (W. II, 530 fg.)
Man könnte alle Todesfurcht zurückführen auf einen Mangel an
derjenigen natürlichen, daher auch bloß gefühlten Metaphysik, vermöge
welcher der Mensch die Gewissheit in sich trägt, dass er in Allen, ja
Allem, eben so wohl existiert, wie in seiner eigenen Person, deren
Tod ihm daher wenig anhaben kann. Eben aus dieser Gewissheit
hingegen entspränge demnach der heroische Mut, folglich aus der
selben Quelle mit den Tugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe.
Nur von diesem höheren Standpunkt aus lässt es sich erklären,
weshalb Feigheit verächtlich, persönlicher Mut hingegen edel und erhaben
erscheint; da von keinem niedrigeren Standpunkt aus sich absehen
lässt, weshalb ein endliches Individuum, welches sich selber Alles, ja
sich selber die Grundbedingung zum Dasein der übrigen Welt ist,
nicht der Erhaltung dieses Selbst alles Andere nachsetzen sollte.
(P. II, 219 fg.)