Gegenwart.
1) Die Gegenwart als alleinige Form der Realität und als das allein Beharrende.
Die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität ist eigentlich nur die Gegenwart, nicht die Zukunft, noch Vergangenheit. Diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhang der dem Satz vom Grund folgenden Erkenntnis da. Die Gegenwart samt ihrem Inhalt ist immer da. Reale Objekte gibt es nur in der Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen; daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. Die Gegenwart allein ist Das, was immer da ist und unverrückbar feststeht. Empirisch aufgefasst das Flüchtigste von Allem, stellt sie dem metaphysischen Blick, der über die Formen der empirischen Anschauung hinwegsieht, sich als das allein Beharrende dar, das Nunc stans der Scholastiker. (W. I, 328 fg. P. I, 91; II, 288.)
Es gibt nur Eine Gegenwart und diese ist immer; denn sie ist
die alleinige Form des wirklichen Daseins. Man muss dahin gelangen
einzusehen, dass die Vergangenheit nicht an sich von der Gegenwart
verschieden ist, sondern nur in unserer Apprehension, als welche die
Zeit zur Form hat, vermöge welcher allein sich das Gegenwärtige als
verschieden vom Vergangenen darstellt. (P. II, 300.)
2) Die beiden Hälften der Gegenwart.
Die Gegenwart hat zwei Hälften, eine objektive und eine subjektive. Die objektive allein hat die Anschauung der Zeit zur Form und rollt daher unaufhaltsam fort; die subjektive steht fest und ist daher immer dieselbe. Hieraus entspringt unsere lebhafte Erinnerung des längst Vergangenen und das Bewusstsein unserer Unvergänglichkeit, trotz der Erkenntnis der Flüchtigkeit unseres Daseins. (P. II, 288.)
Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die
stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die
Zukunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt,
wäre die ausdehnungslose Gegenwart. Wie die Tangente nicht mit
fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts,
dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil
es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren
ist. Oder, die Zeit gleicht einem unaufhaltsamen Strom, und die
Gegenwart einem Felsen, an dem sich jener bricht, aber nicht ihn mit
fortreißt. (W. I, 329. P. I, 111. 517.)
3) Verschiedener Wert der erfüllten Gegenwart; worauf er beruht.
Jede Wirklichkeit, d. h. jede erfüllte Gegenwart, besteht aus zwei Hälften, dem Subjekt und Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung, wie Oxygen und Hydrogen im Wasser. Hierauf beruht es, dass die gegenwärtige Wirklichkeit für verschiedene Individuen von so verschiedener Bedeutung ist. Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver ist so gut, wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz andere; die schönste und beste objektive Hälfte bei stumpfer, schlechter subjektiver, gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und Gegenwart, gleich einer schönen Gegend im schlechten Wetter, oder im Reflex einer schlechten camera obscura. Der Wert und die Bedeutung der gegenwärtigen Wirklichkeit beruht also hauptsächlich auf der Beschaffenheit des Subjekts, auf Dem, was Einer ist. (P. I, 334 fg.)4) Genuss der Gegenwart als ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit.
Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhältnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegenwart, teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen. Andere zu sehr in der Zukunft: die Ängstlichen und Besorglichen. — Statt mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immerdar beschäftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, dass die Gegenwart allein real und allein gewiss ist, hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders war. Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich; sie ist die real erfüllte Zeit und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heiteren Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche Stunde mit Bewusstsein als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit oder Besorgnisse für die Zukunft. (P. I, 441—443.)
Wie sollte es töricht sein, stets dafür zu sorgen, dass man die allein
sichere Gegenwart möglichst genieße, da ja das ganze Leben nur ein
größeres Stück Gegenwart und als solches ganz vergänglich ist?
(H. 447.)