Gedächtnis.
1) Das Gedächtnis als Funktion des Intellekts.
Der Wille, an sich und als solcher, hat kein Gedächtnis, als welches eine Funktion des Intellekts ist, der, seiner Natur nach, nichts liefert und enthält, als bloße Vorstellungen. Was daher nicht Vorstellung ist, liegt nicht im Bereich des Gedächtnisses. Weil Freude und Leid nicht Vorstellungen, sondern Willensaffektionen sind, liegen sie auch nicht im Bereich des Gedächtnisses, und wir vermögen nicht, sie selbst zurückzurufen, als welches hieße, sie erneuern; sondern bloß die Vorstellungen, von denen sie begleitet waren, können wir uns wieder vergegenwärtigen, zumal aber unserer durch sie damals hervorgerufenen Äußerungen uns erinnern. um daran, was sie gewesen, zu ermessen. (P. II, 641.) Der Intellekt allein hat die Fähigkeit der Erinnerung. (W. II, 574.)
Die Eigentümlichkeit des erkennenden Subjekts (Intellekts), dass es
in Vergegenwärtigung von Vorstellungen dem Willen desto leichter gehorcht,
je öfter solche Vorstellungen ihm schon gegenwärtig gewesen
sind, d. h. seine Übungsfähigkeit, ist das Gedächtnis. Dasselbe
ist also nicht als ein Behältnis zu denken, in welchem wir einen Vorrat
fertiger Vorstellungen aufbewahrten, die wir folglich immer hätten,
nur ohne uns derselben immer bewusst zu sein. Denn keineswegs ist
eine Erinnerung immer die selbe Vorstellung, die gleichsam aus ihrem
Behältnis wieder hervorgeholt wird, sondern jedesmal entsteht wirklich
eine neue, nur mit besonderer Leichtigkeit durch die Übung. (G. 146 fg.
W. II, 154. P. II, 642.)
Für das Gedächtnis ist wohl die Verwirrung und Konfusion des
Gelernten zu besorgen, aber doch nicht eigentliche Überfüllung. Seine
Fähigkeit wird durch das Gelernte nicht vermindert, so wenig, wie die
Formen, in welche man sukzessiv den Sand gemodelt hat, dessen Fähigkeit
zu neuen Formen vermindern. In diesem Sinne ist das Gedächtnis
bodenlos. Jedoch wird, je mehr und vielseitigere Kenntnisse Einer hat,
er desto mehr Zeit gebrauchen, um Das herauszufinden, was jetzt plötzlich
erfordert ist; weil er ist, wie ein Kaufmann, der aus einem großen
und mannigfaltigen Magazin die eben verlangte Ware hervorsuchen
soll; oder, eigentlich zu reden, weil er, aus so vielen ihm möglichen,
gerade den Gedankengang hervorzurufen hat, der ihn, in Folge früherer
Einübung, auf das Verlangte leitet. Denn das Gedächtnis ist kein
Behältnis zum Aufbewahren, sondern bloß eine Übungsfähigkeit der
Geisteskräfte; daher der Kopf alle seine Kenntnisse stets nur potentia,
nicht actu besitzt. (P. II, 641 fg.)
Aus der Form der Zeit und der einfachen Dimension der
Vorstellungsreihe, vermöge welcher der Intellekt, um Eines aufzufassen,
alles Andere fallen lassen muss, folgt, wie seine Zerstreuung, so auch
seine Vergesslichkeit. (W. II, 154.)
2) Unterschied zwischen dem tierischen und menschlichen Gedächtnis.
Die Tiere haben ein bloß anschauendes Gedächtnis, der Mensch hingegen außer dem anschauenden ein begriffliches, und daher hat der Mensch eine geordnete, zusammenhängende, denkende Rückerinnerung und mittelst dieser ein deutliches Bewusstsein der Vergangenheit und ihres Zusammenhanges mit der Gegenwart. Die Tiere haben eigentlich keine Vorstellung von der Vergangenheit als solcher und daher kein eigentliches Gedächtnis. Das Erinnerungsvermögen der Tiere ist, wie ihr gesamter Intellekt, auf das Anschauliche beschränkt und besteht zunächst bloß darin, dass ein wiederkehrender Eindruck sich als bereits dagewesen ankündigt, indem die gegenwärtige Anschauung die Spur einer früheren auffrischt; ihre Erinnerung ist daher stets durch das jetzt wirklich Gegenwärtige vermittelt. Dieses regt aber eben deshalb die Empfindung und Stimmung, welche die frühere Erscheinung hervorgebracht hatte, wieder an. Demnach erkennt der Hund die Bekannten, unterscheidet Freunde und Feinde, findet den einmal zurückgelegten Weg u. s. w. wieder. Auch wir sind in einzelnen Fällen, wo das eigentliche Gedächtnis seinen Dienst versagt, auf jene anschauende Rückerinnerung beschränkt, wodurch wir den Unterschied beider aus eigener Erfahrung ermessen können. Bei den klügsten Tieren steigert sich dieses bloß anschauende Gedächtnis bis zu einem gewissen Grade von Phantasie, welche ihm wieder nachhilft und vermöge deren z. B. dem Hunde das Bild des abwesenden Herrn vorschwebt und Verlangen nach ihm erregt, daher er ihn, bei längerem Ausbleiben, sucht. (W. II, 63 fg.; I, 227.)3) Die auf das Gedächtnis wirkenden Einflüsse.
a) Einfluss der Übung.
Da das Gedächtnis kein Behältnis, sondern eine bloße Übungsfähigkeit im Hervorbringen beliebiger Vorstellungen ist, so muss es auch durch stete Wiederholung dieser in Übung erhalten werden, da sie sonst sich allmählich verlieren. (W. II, 154.) Die willkürliche Wiederholung gegenwärtig gewesener Vorstellungen wird durch Übung so leicht, dass, sobald ein Glied einer Reihe von Vorstellungen uns gegenwärtig geworden ist, wir alsbald die übrigen, selbst oft scheinbar gegen unseren Willen, hinzurufen, ähnlich wie ein Tuch die Falten, in die es oft gelegt worden, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt. Wie der Leib dem Willen durch Übung gehorchen lernt, ebenso das Vorstellungsvermögen. Erworbene Kenntnisse, wenn wir sie nicht üben, verschwinden allmählich aus unserm Gedächtnis, weil sie eben nur aus der Gewohnheit und dem Griffe kommende Übungsstücke sind. (G. 147.) Jedes Erlernte muss von Zeit zu Zeit durch Wiederholung aufgefrischt werden; sonst wird es allmählich vergessen. (P. II, 55, Anmerkung.)
Aus dem Einfluss der Wiederholung auf das Gedächtnis erklärt es
sich, warum die Umgebungen und Begebenheiten unserer Kindheit sich
so tief dem Gedächtnis einprägen; weil wir nämlich als Kinder nur
wenige und hauptsächlich nur anschauliche Vorstellungen haben und wir
diese daher, um beschäftigt zu sein, unablässig wiederholen. (G. 148.)
b) Einfluss der Anschaulichkeit der Vorstellungen.
Anschauliche Bilder haften fester im Gedächtnis, als bloße Begriffe, oder gar nur Worte. Darum behalten wir so sehr viel besser was wir erlebt, als was wir gelesen haben. Hieraus ergibt sich die Regel: Man suche Das, was man dem Gedächtnis einverleiben will, so viel als möglich, auf ein anschauliches Bild zurückzuführen, sei es nun unmittelbar, oder als Beispiel der Sache, oder als bloßes Gleichnis, Analogon, oder wie noch sonst. Phantasiebegabte Köpfe lernen die Sprachen leichter, als andere; denn sie verknüpfen mit dem neuen Wort sogleich das anschauliche Bild der Sache; während die Andern bloß das äquivalente Wort der eigenen Sprache damit verknüpfen. (G. 149. P. II, 643.) Ein Wort haftet fester im Gedächtnis, wenn man es an ein Phantasma geknüpft hat, als wenn an einen bloßen Begriff. (P. II, 55, Anmerkung.)c) Einfluss des Zusammenhanges der Vorstellungen.
Am besten behalten wir solche Reihen von Vorstellungen, die unter sich am Bande einer oder mehrerer Arten von Gründen und Folgen zusammenhängen; schwerer aber die, welche nicht unter sich zusammenhängen, sondern nur willkürlich zusammengestellt sind und zusammengehalten werden. Bei jenen nämlich ist in dem uns a priori bewussten Formalen die Hälfte der Mühe uns erlassen. (G. 149.)d) Einfluss der Energie des Vorstellungsvermögens und der Menge der Vorstellungen.
Das Gedächtnis steht unter zwei einander antagonistischen Einflüssen: dem der Energie des Vorstellungsvermögens einerseits und dem der Menge der dieses beschäftigenden Vorstellungen andrerseits. Je kleiner der erste Faktor, desto kleiner muss auch der andere sein, um ein gutes Gedächtnis zu liefern; und je größer der zweite, desto größer muss auch der andere sein. (G. 148.)e) Einfluss des Willens.
Jeder hat das meiste Gedächtnis für Das, was ihn interessiert, das wenigste für das Übrige. Daher vergisst mancher große Geist die kleinen Angelegenheiten und Vorfälle des täglichen Lebens, so wie die ihm bekannt gewordenen unbedeutenden Menschen, unglaublich schnell; während beschränkte Köpfe das Alles trefflich behalten; nichtsdestoweniger wird Jener für die ihm wichtigen Dinge und für das an sich selbst Bedeutende ein gutes, wohl gar ein stupendes Gedächtnis haben. (G. 148.)
Durch den Drang des Willens wird das Gedächtnis gesteigert.
Selbst wenn es schwach ist, bewahrt es vollkommen, was für die
herrschende Leidenschaft Wert hat. Der Verliebte vergisst keine ihm
günstige Gelegenheit, der Ehrgeizige keinen zu seinen Plänen passenden
Umstand, der Geizige nie den erlittenen Verlust u. s. w. Dieser Einfluss
des Willensinteresses auf das Gedächtnis zeigt sich auch bei den
Tieren. Aus demselben erklärt sich, warum eine Sache, die dem
Gedächtnis entfallen ist, wofern sie nur eine Beziehung auf unsern
Willen hatte, am Leitfaden dieser in Erinnerung gebliebenen Beziehung
leicht wieder auch selbst in die Erinnerung zurückgerufen wird.
Eben so dem Gedächtnis entschwundene Personen, wenn sie ehemals
eine, sei es angenehme oder unangenehme Beziehung zu unserm Willen
hatten und ein Nachklang dieser Beziehung in unserm Gedächtnis
zurückgeblieben ist. Man könnte Das, was diesem Hergang zu Grunde
liegt, das Gedächtnis des Herzens nennen; dasselbe ist viel intimer,
als das des Kopfes. Dies hängt damit zusammen, dass das Gedächtnis
überhaupt der Unterlage eines Willens bedarf, als eines Fadens,
auf welchen sich die Erinnerungen reihen und der sie fest zusammenhält. An
einer reinen Intelligenz, an einem bloß erkennenden und ganz willenlosen
Wesen lässt sich daher ein Gedächtnis nicht wohl denken. (W. II, 249 fg.)
Aus dem Einfluss des Willens auf das Gedächtnis lässt sich
folgendes Phänomen erklären. Bisweilen will unser Gedächtnis ein
Wort einer fremden Sprache, oder einen Namen, oder einen Kunstausdruck
nicht reproduzieren, obwohl wir ihn sehr gut wissen. Nachdem
wir uns vergeblich damit abgequält und uns endlich der Sache entschlagen
haben, fällt uns einige Stunden oder Tage später das gesuchte
Wort zwischen ganz anderen Gedanken von selbst ein. Dies ist so zu
erklären: Nach dem peinlichen, vergeblichen Suchen behält der Wille
die Begier nach dem Wort und bestellt daher demselben einen Aufpasser
im Intellekt. Sobald nun später, im Lauf und Spiel der
Gedanken, irgend ein dieselben Anfangsbuchstaben habendes oder sonst
ähnliches Wort zufällig vorkommt, springt der Aufpasser hinzu und
ergänzt es zum gesuchten, welches er nun packt und plötzlich triumphierend
hervorgeschleppt bringt. (P. II, 642.)
Es gibt zwei Weisen, auf welche Dinge unserm Gedächtnis eingeprägt
werden: nämlich entweder durch Vorsatz, indem wir absichtlich
sie memorieren; oder aber sie prägen sich, ohne unser Zutun, von
selbst ein, vermöge des Eindrucks, den sie auf uns machen. Dazu
ist erfordert, dass sie uns in irgend einer Beziehung interessant
seien. An je mehr Dingen Einer lebhaftes Interesse nimmt, desto
mehr wird sich ihm auf diese spontane Weise im Gedächtnis
fixieren. (P II, 56.)
f) Einfluss des Lebensalters.
Aus der dem Kindesalter eigenen tiefsinnigen Auffassung der ersten anschaulichen Außenwelt erklärt es sich, warum die Umgebungen und Erfahrungen unserer Kindheit sich so fest dem Gedächtnis einprägen. Wir sind nämlich ihnen ungeteilt hingegeben gewesen, nichts hat uns dabei zerstreut und wir haben die Dinge, welche vor uns standen, angesehen, als wären sie die einzigen ihrer Art, ja überhaupt allein vorhanden. (P. I, 510.)
Da in der Jugend die Neuheit der Dinge das Interesse an ihnen
erhöht, und die Dinge sich um so besser dem Gedächtnis einprägen,
je lebhafteres Interesse wir an ihnen nehmen, so haben wir in der
Jugend ein besseres Gedächtnis, als im späteren Alter. (P. II, 56.)
Unser Gedächtnis gleicht einem Siebe, das, mit der Zeit und durch
den Gebrauch, immer weniger dicht hält, sofern nämlich, je älter wir
werden, desto schneller aus dem Gedächtnis Das, was wir ihm jetzt
noch anvertrauen, verschwindet, hingegen Das bleibt, was in den ersten
Zeiten sich festgesetzt hat. Die Erinnerungen eines Alten sind daher
um so deutlicher, je weiter sie zurückliegen, und werden es immer
weniger, je näher sie der Gegenwart kommen, so dass, wie seine Augen,
Auch sein Gedächtnis fernsichtig geworden ist. (P. II, 643.)