Essentia und existentia.
1) Verhältnis beider zu einander.
Jede Existentia setzt eine Essentia voraus, d. h. jedes Seiende muss eben auch Etwas sein, ein bestimmtes Wesen haben. Es kann nicht dasein und dabei doch nichts sein; sondern so wenig eine Essentia ohne Existentia eine Realität liefert, eben so wenig vermag dies eine Existentia ohne Essentia. Denn jedes Seiende muss eine ihm wesentliche, eigentümliche Natur haben, vermöge welcher es ist was es ist. Eine Existenz ohne Essenz lässt sich nicht einmal denken. Hingegen schließt die bloße Essenz noch nicht die Existenz ein; denn, wie schon Aristoteles richtig gesagt hat: Die Existenz kann nie zur Essenz, das Dasein nie zum Wesen des Dinges gehören. (E. 57. P. I, 68. G. 11. W. I, 606.)2) Folgerungen aus diesem Verhältnis.
Erstens in Bezug auf die Freiheit des Willens: Da jedes Seiende eine ihm wesentliche eigentümliche Natur (Essenz) haben muss, deren Äußerungen von den Ursachen mit Notwendigkeit hervorgerufen werden, und dieses vom Menschen und seinem Willen eben so sehr gilt, wie von allen übrigen Wesen in der Natur, also auch er zur Existentia eine Essentia, d. h. grundwesentliche Eigenschaften hat, die eben seinen Charakter ausmachen und nur der Veranlassung von Außen bedürfen, um hervorzutreten, so wäre die Erwartung, dass ein Mensch, bei gleichem Anlass, ein Mal so, ein andermal aber ganz anders handeln werde, gleich der Erwartung, dass der selbe Baum, der diesen Sommer Kirschen trug, im nächsten Birnen tragen werde. Die Willensfreiheit bedeutet, genau betrachtet, eine Existentia ohne Essentia, welches heißt, dass Etwas sei und dabei doch Nichts sei; welches wiederum heißt, nicht sei, also ein Widerspruch ist. (E. 58. P. I, 68. 134.)
Zweitens in Bezug auf das Dasein Gottes: Da die
Essenz nicht die Existenz involviert, so ist der ontologische Beweis
für das Dasein Gottes, welcher aus der Essenz Gottes seine Existenz
folgert, unhaltbar, ist nichts als ein spitzfindiges Spiel mit Begriffen,
ohne alle Überzeugungskraft. (W. I, 606.) Der von Anselm von
Canterbury überkommene Gedanke des Cartesius, dass aus dem bloßen
Begriff einer Sache sich ihr Dasein folgern lasse, oder mit anderen
Worten, dass vermöge der Beschaffenheit oder Definition einer bloß gedachten
Sache es notwendig werde, dass sie nicht mehr eine bloß gedachte,
sondern eine wirklich vorhandene sei, dieser auf Gott, als das vollkommenste
Wesen (ens perfectissimum), angewendete Gedanke ist falsch. (P. I, 77.)