Einsamkeit.
1) Vorzüge der Einsamkeit vor der Gesellschaft.
Die Einsamkeit gibt Freiheit und Gemütsruhe. Jede Gesellschaft erfordert notwendig eine gegenseitige Akkommodation. Ganz er selbst sein darf Jeder nur so lange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte der Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist. (P. I, 446.) Jeder kann im vollkommensten Einklang nur mit sich selbst stehen, nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten; denn die Unterschiede der Individualität und Stimmung führen allemal eine, wenn auch geringe Dissonanz herbei. Daher ist der wahre, tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe allein in der Einsamkeit zu finden und als dauernde Stimmung nur in der tiefsten Zurückgezogenheit (P. I, 448.) Die Geistesruhe wird durch jede Gesellschaft gefährdet und kann daher ohne ein bedeutendes Maß von Einsamkeit nicht bestehen. (P. I, 452.)
Die Einsamkeit und Öde lässt alle ihre Übel auf ein Mal, wenn
auch nicht empfinden, doch übersehen; hingegen die Gesellschaft ist
insidiös; sie verbirgt hinter dem Scheine der Kurzweil, der Mitteilung,
des geselligen Genuss u. s. f. große, oft unheilbare Übel.
(P. I, 448.)
Je höher Einer auf der Rangliste der Natur steht, desto einsamer
steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich. Dann aber ist es
eine Wohltat für ihn, wenn die physische Einsamkeit der geistigen
entspricht; widrigenfalls dringt die häufige Umgebung heterogener Wesen
störend, ja, feindlich auf ihn ein, raubt ihm sein Selbst und hat nichts
als Ersatz dafür zu geben. Sodann, während die Natur zwischen
Menschen die weiteste Verschiedenheit, im Moralischen und Intellektuellen
gesetzt hat, stellt die Gesellschaft, diese für nichts achtend, sie alle gleich,
oder vielmehr sie setzt an ihre Stelle die künstlichen Unterschiede und
Stufen des Standes und Ranges, welche der Rangliste der Natur sehr
oft diametral entgegen laufen. Bei dieser Anordnung kommen die von
Natur hoch Stehenden zu kurz. . . . . Die Gesellschaft, welche man
die gute nennt, hat nicht nur den Nachteil, dass sie uns Menschen
darbietet, die wir nicht loben und lieben können, sondern sie lässt auch
nicht zu, dass wir selbst seien, wie es unserer Natur angemessen ist;
vielmehr nötigt sie uns, des Einklanges mit den Anderen wegen, einzuschrumpfen,
oder gar uns selbst zu verunstalten. (P. I, 446 fg.)
Dem Intellektuell hochstehenden Menschen gewährt die Einsamkeit
einen zwiefachen Vorteil: erstlich den, mit sich selber zu sein, und
zweitens den, nicht mit Anderen zu sein. Diesen letzteren wird man
hoch anschlagen, wenn man bedenkt, wie viel Zwang, Beschwerde und
selbst Gefahr jeder Umgang mit sich bringt. Geselligkeit gehört zu den
gefährlichen, ja, verderblichen Neigungen, da sie uns in Kontakt bringt
mit Wesen, deren große Mehrzahl moralisch schlecht und Intellektuell
stumpf oder verkehrt ist. (P. I, 451.)
Einsamkeit ist das Los aller hervorragenden Geister; sie werden
solche bisweilen beseufzen, aber stets als das kleinere von zwei Übeln
erwählen. (P. I, 455.)
2) Liebe zur Einsamkeit als Maßstab des intellektualen Wertes.
Für den intellektualen Wert der Person ist der Grad der Fähigkeit zum Ertragen oder Lieben der Einsamkeit ein guter Maßstab. (W. I, 240.) Jeder wird in genauer Proportion zum Werte seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Größe, kurz Jeder sich als was er ist. (P. I, 446.) Je mehr Einer an sich selber hat, desto weniger können Andere ihm sein. Ein gewisses Gefühl von Allgenugsamkeit ist es, welches die Leute von innerem Wert und Reichtum abhält, der Gemeinschaft mit Anderen die bedeutenden Opfer, welche sie verlangt, zu bringen, geschweige dieselbe zu suchen. Das Gegenteil hiervon macht die gewöhnlichen Leute so gesellig und akkommodant; es wird ihnen nämlich leichter, Andere zu ertragen, als sich selbst. (P. I, 448 ff.) Es ist ein aristokratisches Gefühl, welches den Hang zur Absonderung und Einsamkeit nährt. Alle Lumpen. sind gesellig, zum Erbarmen; dass hingegen ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sich an seiner Liebe zur Einsamkeit. (P. I, 454 fg.)3) In welchem Sinne die Einsamkeit dem Menschen natürlich und wieder nicht natürlich ist.
Wie ursprünglich die Not, so treibt, nach Beseitigung dieser, die Langeweile die Menschen zusammen. Ohne Beide bliebe wohl Jeder allein, schon weil nur in der Einsamkeit die Umgebung der ausschließlichen Wichtigkeit, ja Einzigkeit entspricht, die Jeder in seinen eigenen Augen hat, und welche vom Weltgedränge zu nichts verkleinert wird. In diesem Sinne ist die Einsamkeit sogar der natürliche Zustand eines Jeden; sie setzt ihn wieder ein, als ersten Adam, in das ursprüngliche, seiner Natur angemessene Glück. (P. I, 452.)
In einem anderen Sinne wieder ist dem Menschen die Einsamkeit
nicht natürlich; sofern nämlich er, bei seinem Eintritt in die Welt,
sich nicht allein, sondern zwischen Eltern und Geschwistern, also in
Gemeinschaft gefunden hat. Demzufolge kann die Liebe zur Einsamkeit
nicht als ursprünglicher Hang da sein, sondern erst in Folge der Erfahrung
und des Nachdenkens entstehen; und dies wird Statt haben
nach Maßgabe der Entwickelung eigener geistiger Kraft, zugleich aber
auch mit der Zunahme der Lebensjahre. (P. I, 452.)
4) Einfluss des Alters auf den Hang zur Einsamkeit.
Im Ganzen genommen steht der Geselligkeitstrieb eines Jeden im umgekehrten Verhältnisse seines Alters. Das kleine Kind erhebt ein Angst- und Jammergeschrei, sobald es nur einige Minuten allein gelassen wird. Dem Knaben ist das Alleinsein eine große Pönitenz. Jünglinge gesellen sich leicht zu einander, nur die edleren und hochgesinnten unter ihnen suchen schon bisweilen die Einsamkeit. Der Mann kann schon viel allein sein, und desto mehr, je älter er wird. Der Greis findet an der Einsamkeit sein eigentliches Element. Immer aber wird hierbei in den Einzelnen die Zunahme der Neigung zur Absonderung und Einsamkeit nach Maßgabe ihres Intellektuellen Wertes erfolgen. (P. I, 452 fg.)
In den sechziger Jahren ist der Trieb zur Einsamkeit ein wirklich
naturgemäßer, ja, instinktartiger. Denn jetzt vereinigt sich Alles, ihn
zu befördern. (P. I, 455 fg.) Nur höchst dürftige und gemeine
Naturen werden im Alter noch so gesellig sein, wie ehedem. (P. I, 456.)
Das dargelegte entgegengesetzte Verhältnis zwischen der Zahl der
Lebensjahre und dem Grade der Geselligkeit hat auch eine teleologische
Seite. Je jünger der Mensch ist, desto mehr hat er noch
in jeder Beziehung zu lernen. Sehr zweckmäßig also besucht er die
natürliche Unterrichtsanstalt (die Gesellschaft) desto fleißiger, je jünger
er ist. (P. I, 457.)