1) Zweck des Eides.
Der unbestrittene Zweck des Eides ist, der nur zu häufigen Falschheit
und Lügenhaftigkeit des Menschen auf bloß moralischem Wege zu
begegnen, dadurch, dass man die von ihm anerkannte moralische Verpflichtung,
die Wahrheit zu sagen, durch irgend eine außerordentliche,
hier eintretende Rücksicht erhöht, ihm lebhaft zum Bewusstsein bringt.
(
P. II, 281.)
2) Die von der Religion unabhängige, rein moralische
Bedeutung des Eides.
Obwohl bei keiner Angelegenheit die Religion so unmittelbar und
augenfällig in das praktische Leben eingreift, wie beim Eide, so hat
doch der Eid eine von dem religiösen Glauben und dessen Wandlungen
unabhängige, deshalb auch den Verfall der Religionen überdauernde
rein moralische Bedeutung, welche sich auf deutliche Begriffe bringen
lässt. Jeder Mensch trägt nämlich die, wenngleich undeutliche Überzeugung
in sich, dass die Welt nicht bloß eine physische Bedeutung
habe, sondern zugleich irgendwie eine metaphysische, und sogar auch,
dass in Bezug auf solche unser individuelles Handeln seiner bloßen
Moralität nach noch ganz andersartige und viel wichtigere Folgen habe,
als ihm vermöge seiner empirischen Wirksamkeit zukommen, und sonach
wirklich von transzendenter Bedeutsamkeit sei. Die Aufforderung zum
Eide stellt nun den Menschen ausdrücklich auf den Standpunkt, wo er
sich, in diesem Sinne, als bloß moralisches Wesen und mit Bewusstsein
der hohen Wichtigkeit für ihn selbst seiner in dieser Eigenschaft gegebenen
Entscheidungen anzusehen hat, wodurch jetzt bei ihm alle anderen Rücksichten
zusammenschrumpfen sollen, bis zum gänzlichen Verschwinden.
(
P. II, 283.)
3) Die Eidesformel.
Es ist unwesentlich, ob die beim Eide in Anregung gebrachte Überzeugung
von einer metaphysischen und zugleich moralischen Bedeutung
unseres Daseins bloß dumpf gefühlt, oder in allerlei Mythen gekleidet
und dadurch belebt, oder aber zur Klarheit des philosophischen Denkens
gebracht sei; woraus wieder folgt, dass es im Wesentlichen nicht darauf
ankommt, ob die Eidesformel diese, oder jene mythologische Beziehung
ausdrückt, oder aber ganz abstrakt sei, wie das französische
je le jure.
Die Formel ist nach dem Grade der Intellektuellen Bildung des
Schwörenden zu wählen. Die Sache, so betrachtet, könnte sogar
Einer, der sich zu keiner Religion bekennt, sehr wohl zum Eide zugelassen
werden. (
P. II, 283.)