Egoismus.
1) Das Wort Egoismus.
Das deutsche Wort Selbstsucht führt einen falschen Nebenbegriff von Krankheit mit sich. Das Wort Eigennutz aber bezeichnet den Egoismus, sofern er unter Leitung der Vernunft steht, welche ihn befähigt, vermöge der Reflexion seine Zwecke planmäßig zu verfolgen; daher man die Tiere wohl egoistisch, aber nicht eigennützig nennen kann. Also ist für den allgemeinen Begriff das Wort Egoismus beizubehalten. (E. 196.)2) Ursprung des Egoismus.
Die Vielheit von Individuen, in welcher der Wille sich erscheint, trifft nicht ihn selbst als Ding an sich, sondern nur seine Erscheinungen; er ist in jeder von diesen ganz und ungeteilt vorhanden und erblickt um sich herum das zahllos wiederholte Bild seines eigenen Wesens. Dieses selbst aber, also das wirklich Reale, findet er unmittelbar nur in seinem Innern. Daher will Jeder Alles für sich, will Alles besitzen, wenigstens beherrschen, und was sich ihm widersetzt, möchte er vernichten. Hierzu kommt, bei den erkennenden Wesen, dass das Individuum Träger des erkennenden Subjekts, und dieses Träger der Welt ist, d. h. dass die ganze Natur außer ihm, also auch alle übrigen Individuen, nur in seiner Vorstellung existieren, er sich ihrer stets nur als seiner Vorstellung, also bloß mittelbar bewusst ist. Hieraus also, dass jedes Individuum sich allein für real hält und die andern gewissermaßen als bloße Phantome betrachtet, weil Jeder sich selber unmittelbar gegeben ist, die Anderen aber nur mittelbar durch die Vorstellung von ihnen in seinem Kopfe, — entspringt der Egoismus. (W. I, 391 fg. E. 197. W. II, 687.)3) Wesen und Umfang des Egoismus.
Der Egoismus, d. h. der Drang zum Dasein und Wohlsein, ist die Haupttriebfeder im Menschen, wie im Tiere. Er nimmt unter den drei Grundtriebfedern der Handlungen: Egoismus, Bosheit, Mitleid, die erste Stelle ein. Er ist mit dem innersten Kern und Wesen des Menschen aufs genaueste verknüpft, ja, eigentlich identisch. Daher entspringen in der Regel alle Handlungen aus dem Egoismus. Derselbe ist seiner Natur nach Grenzenlos. Der Mensch will unbedingt sein Dasein erhalten, will es von Schmerzen unbedingt frei, will die größtmögliche Summe von Wohlsein, und will jeden Genuss, zu dem er fähig ist, ja, sucht, wo möglich, noch neue Fähigkeiten zum Genuss in sich zu entwickeln. Alles was sich seinem Streben entgegenstellt, erregt seinen Unwillen, Zorn, Hass; er wird es als seinen Feind zu vernichten suchen. Er will, wo möglich, Alles genießen, Alles haben; da aber dies unmöglich ist, wenigstens Alles beherrschen.Alles für mich, und nichts für die Andernist sein Wahlspruch. Aus dem egoistischen Individuum, sei dasselbe auch nur ein Insekt, oder ein Wurm, redet die Natur also:
Ich allein bin Alles in Allem; an meiner Erhaltung ist Alles gelegen, das Übrige mag zu Grunde gehen, es ist eigentlich nichts.Diese Gesinnung, die die eigene Existenz und Wohlsein vor Allem Anderen berücksichtigt, bereit, alles Andere dieser aufzuopfern, ist der Egoismus, der jedem Dinge in der Natur wesentlich ist. (E. 196 fg. 210. W. I, 392; II, 687.)
4) Was im Egoismus sich offenbart.
Der Egoismus ist es, wodurch der innere Widerstreit des Welt-Willens mit sich selbst zur fürchterlichen Offenbarung gelangt. Dieser Widerstreit erreicht im Menschengeschlecht seinen Gipfel, wo der Egoismus den höchsten Grad erreicht und der durch ihn bedingte Widerstreit der Individuen daher auf das entsetzlichste hervortritt. Dies sehen wir überall vor Augen, im Kleinen wie im Großen, sehen es bald von der schrecklichen Seite, im Leben großer Tyrannen und Bösewichter und in weltverheerenden Kriegen, bald von der lächerlichen Seite, wo es das Thema des Lustspiels ist und ganz besonders im Eigendünkel und Eitelkeit hervortritt; wir sehen es in der Weltgeschichte und in der eigenen Erfahrung. (W. I, 392 fg.)5) Der aus dem Egoismus entspringende Grundirrtum und die Schuld dieses Irrtums.
In Folge des Egoismus ist unser Aller Grundirrtum dieser, dass wir einander gegenseitig Nicht-Ich sind, dass wir Zeit und Raum nicht als bloße Formen des Intellekts, sondern als Bestimmungen der Dinge an sich betrachtend, die metaphysische Identität aller Wesen nicht erkennen, das principium individuationis nicht durchschauen. (W. II, 688.)
Die Schuld dieses Irrtums fällt auf den Willen zurück; denn
die Durchschauung des principii individuationis würde in Jedem
vorhanden sein, wenn nicht sein Wille sich ihr widersetzte, als welcher,
vermöge seines unmittelbaren, geheimen und despotischen Einflusses auf
den Intellekt, sie meistens nicht aufkommen lässt. (W. II, 688.)