Ding an sich.
1) Die Annahme des Dinges an sich.
Die Annahme eines Dinges an sich hinter den Erscheinungen, eines realen Kerns unter so vielen Hüllen, ist keineswegs unwahr; da vielmehr die Ableugnung desselben absurd wäre. (P. I, 96.)2) Gegensatz zwischen Ding an sich und Erscheinung.
Ding an sich bedeutet das unabhängig von unserer Wahrnehmung Vorhandene, also das eigentlich Seiende. (P. II, 97.) Erscheinung heißt Vorstellung und weiter nichts; alle Vorstellung, alles Objekt ist Erscheinung. Das Ding an sich ist durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden; es ist Das, wovon alle Vorstellung, alles Objekt die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist. Es ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen. (W. I, 37. 41. 131. 517; II, 8. 216.) Das Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen und Gesetzen derselben, in welche es eben erst eingeht, indem es erscheint, die daher nur seine Objektität betreffen, ihm selbst fremd sind. (W. I, 118. 134. 144. 152; II, 568. P. I, 93.) Das Ding an sich ist die natura naturans, die Erscheinung die natura naturata. (P. II, 98.) Der Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung lässt sich auch ausdrücken als der zwischen dem innerlichen, subjektiven und dem äußerlichen, objektiven Wesen eines Dinges. (P. II, 100, Anmerkung.) Das An- und Fürsichsein jedes Dinges muss notwendig ein subjektives sein; in der Vorstellung eines Anderen hingegen steht es eben so notwendig als ein objektives da; ein Unterschied, der nie ganz ausgeglichen werden kann. (W. II, 217.)3) Auf welchem Wege allein zur Erkenntnis des Dinges an sich zu gelangen ist.
Da der Satz vom Grunde keine unbedingte Gültigkeit vor, außer und über aller Welt hat, sondern nur eine relative und bedingte, allein in der Erscheinung geltende, so kann das innere Wesen der Welt, das Ding an sich, nimmer an seinem Leitfaden gefunden werden. (W. I, 38 fg.)
Überhaupt ist das Ding an sich auf dem Wege der rein objektiven
Erkenntnis nimmermehr zu erreichen, da diese immer Vorstellung
bleibt, als solche aber im Subjekt wurzelt und nie etwas von der
Vorstellung wirklich Verschiedenes liefern kann. Sondern nur dadurch
kann man zum Dinge an sich gelangen, dass man die unmittelbare
Erkenntnis, welche Jeder vom inneren Wesen seiner eigenen leiblichen
Erscheinung hat, auf die übrigen, lediglich in der objektiven Anschauung
gegebenen Erscheinungen analogisch überträgt und so die Selbsterkenntnis
als Schlüssel zur Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge, d. h. der
Dinge an sich selbst, benutzt. Zu dieser also kann man nur gelangen
auf einem von der rein objektiven Erkenntnis ganz verschiedenen Wege,
indem man das Selbstbewusstsein zum Ausleger des Bewusstseins
anderer Dinge macht. Dies ist der allein rechte Weg, die
enge Pforte zur Wahrheit. (P. I, 100 fg. W. II, 14. 218 fg.
I, 118 fg. G. 83. P. I, 84. N. 91. W. I, 517.)
4) In welchem Sinne der Wille als das Ding an sich zu betrachten ist.
Das Ding an sich, welches als solches nimmermehr Objekt ist, eben weil alles Objekt schon wieder seine bloße Erscheinung, nicht mehr es selbst ist, musste, wenn es dennoch objektiv gedacht werden sollte, Namen und Begriff von einem Objekt borgen, von etwas irgendwie objektiv Gegebenem, folglich von einer seiner Erscheinungen; aber diese durfte, um als Verständigungspunkt zu dienen, keine andere sein, als unter allen seinen Erscheinungen die vollkommenste, d. h. die deutlichste, vom Erkennen unmittelbar beleuchtete. Diese aber ist des Menschen Wille. Die Bezeichnung des Dinges an sich als Wille ist zwar nur eine denominatio a potiori, eine Benennung des Genus nach der vorzüglichsten Spezies, wodurch der Begriff Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte; aber diese Ausdehnung ist wegen der Identität des Wesens jeder irgend strebenden und wirkenden Kraft in der Natur mit dem Willen eine berechtigte. (W. I, 131 ff.)
Die Wahrnehmung, in der wir die Regungen und Akte des eigenen
Willens erkennen, ist eine bei Weitem unmittelbarere, als jede andere;
sie ist der Punkt, wo das Ding an sich am unmittelbarsten in die
Erscheinung tritt und in größter Nähe vom erkennenden Subjekt beleuchtet
wird; daher eben der also intim erkannte Vorgang der Ausleger
jedes anderen zu werden einzig und allein geeignet ist. Denn bei jedem
Hervortreten eines Willensaktes aus der dunkeln Tiefe unseres Innern
in das erkennende Bewusstsein geschieht ein unmittelbarer Übergang des
außer der Zeit liegenden Dinges an sich in die Erscheinung. Demnach
ist zwar der Willensakt nur die nächste und deutlichste Erscheinung
des Dinges an sich; doch folgt hieraus, dass wenn alle übrigen Erscheinungen
ebenso unmittelbar und innerlich von uns erkannt werden
könnten, wir sie für eben das ansprechen müssten, was der Wille in
uns ist. In diesem Sinne also ist das innere Wesen eines jeden
Dinges als Wille aufzufassen und der Wille das Ding an sich zu
nennen. Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich
wird hierdurch dahin modifiziert, dass dasselbe nur nicht schlechthin und
von Grund aus erkennbar sei, dass jedoch die bei Weitem unmittelbarste
seiner Erscheinungen es für uns vertritt, und wir sonach die ganze
Welt der Erscheinungen zurückzuführen haben auf diejenige, in welcher
das Ding an sich in der allerleichtesten Verhüllung sich darstellt und
nur noch in sofern Erscheinung bleibt, als mein Intellekt, der allein
das der Erkenntnis Fähige ist, von mir als dem Wollenden noch immer
unterschieden bleibt und auch die Erkenntnisform der Zeit, selbst bei
der inneren Perzeption, nicht ablegt. (W. II, 221.)
5) Warum unsere Erkenntnis des Dinges an sich keine erschöpfende, adäquate ist.
Die innere Wahrnehmung, welche wir von unserm eigenen Wesen haben, ist zwar der einzige Weg, zur Erkenntnis des Wesens an sich der Dinge zu gelangen; aber diese Erkenntnis ist keine erschöpfende, adäquate. Denn, obgleich die Selbsterkenntnis eine unmittelbarere ist, als die der Außendinge, so ist sie doch keine ganz unmittelbare, da auch sie noch an die Form der Vorstellung gebundene Wahrnehmung ist und als solche in Subjekt und Objekt, in ein Erkennendes und Erkanntes zerfällt. Also auch in der inneren Erkenntnis findet noch ein Unterschied Statt zwischen dem Sein an sich ihres Objekts und der Wahrnehmung desselben im erkennenden Subjekt. Jedoch ist die innere Erkenntnis von zwei Formen frei, welche der äußeren anhängen, nämlich von der des Raumes und der Kausalität. Hingegen bleibt noch die Form der Zeit, wie auch die des Erkanntwerdens und Erkennens überhaupt. Demnach hat in dieser inneren Erkenntnis das Ding an sich seine Schleier zwar großen Teils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht ganz nackt auf. (W. II, 220. 563 fg.)
Wenn es auch mittelst der Verknüpfung der nach außen gerichteten,
objektiven Erkenntnis mit den Daten des Selbstbewusstseins möglich
wird, zu einem gewissen Verständnis der Welt und des Wesens an sich
der Dinge zu gelangen; so wird dieses doch nur ein sehr limitiertes,
ganz mittelbares und relatives, nämlich eine parabolische Übersetzung
in die Formen der Erkenntnis, also ein quadam prodire
tenus sein, welches stets noch viele Probleme ungelöst übrig lassen
muss. (W. II, 327.)
Die vollkommenste Erkennbarkeit, d. h. die größte Klarheit, Deutlichkeit
und erschöpfende Ergründlichkeit kommt nur Dem zu, was der
Erkenntnis als solcher eigen ist, also der apriorischen Form der Erkenntnis,
nicht aber Dem, was, an sich nicht Vorstellung, nicht
Objekt, erst durch das Eingehen in diese Formen erkennbar, d. h.
Vorstellung, Objekt geworden ist. Jeder Inhalt, den die Formen bekommen,
enthält schon etwas nicht mehr vollständig seinem ganzen
Wesen nach Erkennbares, also etwas Grundloses, wodurch sogleich die
Erkenntnis an Evidenz verliert und die vollkommene Durchsichtigkeit
einbüßt. Dieses der Ergründung sich Entziehende ist eben das Ding
an sich, ist dasjenige, was wesentlich nicht Vorstellung, nicht Objekt
der Erkenntnis ist, sondern erst indem es in jene Form einging, erkennbar
geworden ist. (W. I, 144.)
Die Erkenntnis und die Vielheit, oder Individuation, stehen und
fallen mit einander, indem sie sich gegenseitig bedingen. Hieraus ist
zu schließen, dass jenseits der Erscheinung, im Wesen an sich aller
Dinge, welchem Zeit und Raum, und deshalb auch die Vielheit fremd
sein muss, auch keine Erkenntnis vorhanden sein kann. Ein
Erkennen der Dinge an sichim strengsten Sinne des Worts, wäre demnach schon darum unmöglich, weil, wo das Wesen an sich der Dinge anfängt, das Erkennen wegfällt, und alle Erkenntnis schon grundwesentlich bloß auf Erscheinungen geht. (W. II, 311.)
Die objektive Ansicht des Intellekts (s. Intellekt), welche eine
Genesis desselben enthält, macht begreiflich, dass er, ausschließlich zu
praktischen Zwecken bestimmt, das bloße Medium der Motive ist,
mithin durch richtige Darstellung dieser seine Bestimmung erfüllt, und
dass, wenn wir aus dem Komplex und der Gesetzmäßigkeit der hierbei
sich uns objektiv darstellenden Erscheinungen das Wesen der Dinge an
sich selbst zu konstruieren unternehmen, dieses auf eigene Gefahr und
Verantwortlichkeit geschieht. Unser Intellekt, ursprünglich nur bestimmt
einem individuellen Willen seine kleinlichen Zwecke vorzuhalten, fasst
demgemäß bloße Relationen der Dinge auf und dringt nicht in ihr
Inneres, in ihr eigenes Wesen; er ist demnach eine bloße Flächenkraft,
haftet an der Oberfläche der Dinge und fasst bloße species transitivas,
nicht das wahre Wesen derselben. Hieraus eben entspringt es, dass
wir kein einziges Ding, auch nicht das einfachste und geringste, durch
und durch verstehen und begreifen können, sondern an jedem etwas uns
völlig Unerklärliches übrig bleibt. (W. II, 324 fg.)
6) Das Ding an sich in der Geschichte der Philosophie.
Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wesen an sich der Dinge war im Grunde zu allen Zeiten da, wurde nur meistens sehr unvollkommen zum Bewusstsein gebracht und daher ungenügend ausgesprochen, trat sogar oft in seltsamer Verkleidung auf. (W. II, 195.)
Dem Demokritos war das Ding an sich die geformte Materie;
das Selbe war es im Grunde noch dem Locke; Kanten war es = x;
Schopenhauern ist es Wille. (P. II, 97.) Eine auffallend
deutliche und bestimmte Unterscheidung des Dinges an sich von der
Erscheinung, eigentlich sogar schon im Kantischen Sinne, finden wir
in einer Stelle des Porphyrius, welche Stobäus (Eclog. L. I, c. 43,
Fragm. 3) uns aufbewahrt hat. (P. II, 98.)
Kanten zufolge ist das von unserm Vorstellen und dessen Apparat
unabhängige Wesen der Dinge, welches er das Ding an sich nennt,
also das eigentlich Reale, im Gegensatz des Idealen, ein von der
sich uns anschaulich darstellenden Gestalt ganz und gar Verschiedenes,
dem sogar, da es von Raum und Zeit unabhängig sein soll, eigentlich
weder Ausdehnung, noch Dauer beizulegen ist; obwohl es allem Dem,
was Ausdehnung und Dauer hat, die Kraft dazusein erteilt. Auch
Spinoza hat die Sache im Allgemeinen begriffen, wie zu ersehen
aus Eth. P. II, prop. 16, mit dem 2ten Coroll., auch prop. 18,
scho. — Das Lockesche Ding an sich (Reale im Gegensatz des Idealen)
ist im Grunde die Materie, zwar entblößt von allen den Eigenschaften,
die er, als sekundär, d. h. durch unsre Sinnesorgane bedingte,
beseitigt; aber doch ein an und für sich als ein Ausgedehntes u. s. w.
Existierendes, dessen bloßer Reflex oder Abbild die Vorstellung in uns
sei. Dieses vermeinte Reale Lockes, die Materie, geht jedoch nach
Kant und Schopenhauer ganz und gar in das Ideale und damit in
das Subjekt zurück; d. h. es existiert allein in der Vorstellung und für
die Vorstellung. (P. I, 17 fg. 94. W. II, 23.) Die Franzosen sind,
durch den früheren Einfluss Condillacs im Grunde noch immer
Lockianer. Daher ist ihnen das Ding an sich eigentlich die Materie,
aus deren Grundeigenschaften, wie Undurchdringlichkeit, Gestalt, Härte
und sonstige primary qualities Alles in der Welt zuletzt erklärbar
sein müsse. (W. II, 14, 343.)
Die ganze Lockesche objektive Welt von Dingen an sich wurde
durch Kant in eine Welt von bloßen Erscheinungen in unserm Erkenntnisapparate
verwandelt. Dennoch ließ Kant noch immer das Ding
an sich als etwas von unseren Vorstellungen Unabhängiges bestehen,
das denselben als bloßen Erscheinungen zu Grunde läge. So sehr
nun auch Kant hierin im Allgemeinen Recht hatte, so war doch die
Art, wie er das Ding an sich einführte, fehlerhaft. Kanten leitete
die sicher gefühlte Wahrheit, das hinter jeder Erscheinung ein an sich
selbst Seiendes, von dem sie ihren Bestand erhält, also hinter der
Vorstellung ein Vorgestelltes liege. Aber er unternahm, dieses aus der
gegebenen Vorstellung selbst abzuleiten, unter Hinzuziehung ihrer uns
a priori bewussten Gesetze, welche jedoch, gerade weil sie a priori sind,
nicht aus ein von der Erscheinung, oder Vorstellung, Unabhängiges und
Verschiedenes leiten können; weshalb man zu diesem einen ganz andern
Weg einzuschlagen hat. Die Inkonsequenzen, in welche Kant, durch
den fehlerhaften Gang, den er in dieser Hinsicht genommen, sich verwickelt
hatte, wurden ihm dargetan von G. E. Schultze zuerst im
Aenesidemus(besonders S. 374—381) und später in seiner Kritik der theoretischen Philosophie (Bd. 2, S. 205 ff.); wogegen Reinhold Kants Verteidigung, jedoch ohne sonderlichen Erfolg, geführt hat. (P. I, 96 fg. W. I, 200. 516 fg. 595 fg.)
Kant stellt durchgängig das Moralische in uns als in der engsten
Verbindung mit dem wahren Wesen an sich der Dinge, ja, als
unmittelbar dieses treffend dar. Überall wo bei ihm das geheimnisvolle
Ding an sich irgend deutlicher hervortritt, gibt es sich zu erkennen
als das Moralische in uns, als Wille. (E. 133. P. I, 145.)
Bei der Idee der Freiheit (in der Auflösung der dritten Antinomie)
wird Kant vom Ding an sich ausführlicher zu reden genötigt;
Überhaupt liegt hier der Punkt, wo Kants Philosophie auf die Schopenhauersche
hinleitet, oder wo diese als aus ihrem Stamm hervorgeht.
Kant ist mit seinem Denken nicht zu Ende gekommen. Schopenhauer
hat bloß seine Sache durchgeführt, indem er, was Kant von der menschlichen
Erscheinung allein sagt, auf alle Erscheinung überträgt, nämlich
dass das Wesen an sich derselben ein absolut Freies, d. h. ein Wille
ist. (W. I, 595. P. I, 145.)
Schopenhauer hat das Ding an sich nicht erschlichen noch erschlossen
nach Gesetzen, die es ausschließen, indem sie schon seiner
Erscheinung angehören; vielmehr hat er es unmittelbar nachgewiesen,
da, wo es unmittelbar liegt, im Willen, der sich Jedem als das
Ansich seiner eigenen Erscheinung unmittelbar offenbart. (W. I, 597.) —
Schopenhauer lässt ganz und gar Kants Lehre bestehen, dass die Welt
der Erfahrung bloße Erscheinung sei und dass die Erkenntnisse a priori
bloß in Bezug auf diese gelten; aber er fügt hinzu, dass sie gerade als
Erscheinung die Manifestation Desjenigen ist, was erscheint, und nennt
es mit ihm das Ding an sich. Dieses drückt nach Schopenhauer
sein Wesen und seinen Charakter in der Erfahrungswelt aus, und
zwar in dem Stoff, nicht in der bloßen Form der Erfahrung.
(W. II, 204.)