1) Vorzug der Biographie vor der Geschichte.
In Hinsicht auf die Erkenntnis des Wesens der Menschheit ist den
Biographien, vornehmlich den Autobiographien, ein größerer
Wert zuzugestehen, als der eigentlichen Geschichte, wenigstens wie
sie gewöhnlich behandelt wird. Teils nämlich sind bei jenen die Data
richtiger und vollständiger zusammenzubringen, als bei dieser; teils
agieren in der eigentlichen Geschichte nicht sowohl Menschen, als Völker
und Heere, und die Einzelnen, welche noch auftreten, erscheinen in
solcher Entfernung und Verhüllung, dass es schwer wird, durch diese
hindurch das menschliche Wesen zu erkennen. Hingegen zeigt das treu
geschilderte Leben des Einzelnen in einer engen Sphäre die Handlungsweise
der Menschen in allen ihren Nuancen und Gestalten und eröffnet
uns den Blick in die innere Bedeutung des Erscheinenden, für
welche es sich gleich bleibt, ob die Gegenstände, um die es sich handelt,
relativ klein oder groß, Bauernhöfe oder Königreiche sind. — Die Geschichte
zeigt uns die Menschheit, wie uns eine Aussicht von einem
hohen Berge die Natur zeigt. Dagegen zeigt uns das dargestellte
Leben des Einzelnen den Menschen so, wie wir die Natur erkennen,
wenn wir zwischen ihren Bäumen, Pflanzen, Felsen und Gewässern
umhergehen. (
W. I, 291—293.)
2) Widerlegung der Zweifel an der Wahrhaftigkeit
der Autobiographien.
Man hat Unrecht zu meinen, die Autobiographien seien voller Trug
und Verstellung. Vielmehr ist das Lügen dort vielleicht schwerer, als
irgendwo. In einer Selbstbiographie sich zu verstellen ist so schwer,
dass es vielleicht keine einzige gibt, die nicht im Ganzen wahrer wäre,
als jede andere geschriebene Geschichte. Der Mensch, der sein Leben
aufzeichnet, überblickt es im Ganzen und Großen, das Einzelne wird
klein, das Nahe entfernt sich, das Ferne kommt wieder nah, die Rücksichten
schrumpfen ein; er sitzt sich selbst zur Beichte und hat sich
freiwillig hingesetzt; der Geist der Lüge fasst ihn hier nicht so leicht;
denn es liegt in jedem Menschen auch eine Neigung zur Wahrheit,
die bei jeder Lüge erst überwältigt werden muss und die eben hier eine
ungemein starke Stellung eingenommen hat. (
W. I, 292.)