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Schopenhauers Kosmos

 

 Besonnenheit.

1) Quelle der Besonnenheit.

Das Denken, die Reflexion erteilt dem Menschen jene Besonnenheit, die dem Tiere abgeht. Denn, indem sie ihn befähigt, tausend Dinge durch Einen Begriff, in jedem aber immer nur das Wesentliche zu denken, kann er Unterschiede jeder Art, also auch die des Raumes und der Zeit, beliebig fallen lassen, wodurch er in Gedanken die Übersicht der Vergangenheit und Zukunft, wie auch des Abwesenden, erhält; während das Tier in jeder Hinsicht an die Gegenwart gebunden ist. (G. 101.)
Durch den im Menschen auftretenden überwiegenden Intellekt ist nicht nur die Auffassung der Motive, die Mannigfaltigkeit derselben und überhaupt der Horizont der Zwecke unendlich vermehrt, sondern auch die Deutlichkeit, mit welcher der Wille sich seiner selbst bewusst wird, aufs höchste gesteigert, in Folge der eingetretenen Klarheit des ganzen Bewusstseins, welche, durch die Fähigkeit des abstrakten Erkennens unterstützt, bis zur vollkommenen Besonnenheit geht. (W. II, 317.) Das Tier lebt ohne alle Besonnenheit. Bewusstsein hat es, d. h. es erkennt sich und sein Wohl und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche beides veranlassen. Aber seine Erkenntnis bleibt stets subjektiv, wird nie objektiv; alles darin Vorkommende scheint sich ihm von selbst zu verstehen und kann ihm daher nie weder zum Objekt der Darstellung, noch zum Objekt der Meditation werden. Sein Bewusstsein ist also ganz immanent. Von verwandter Beschaffenheit ist das Bewusstsein des gemeinen Menschenschlages. (W. II, 435; N. 75.) Die Besonnenheit entspringt aus der Deutlichkeit, mit welcher man der Welt und seiner selbst inne wird und dadurch zur Besinnung darüber kommt. Sie beruht auch darauf, dass der Intellekt durch sein Übergewicht sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zu Zeiten losmacht. (W. II, 436.)

2) Die Besonnenheit als Wurzel aller großen theoretischen und praktischen Leistungen des Menschen.

Die Besonnenheit ist die Wurzel aller jener theoretischen und praktischen Leistungen, durch welche der Mensch das Tier so sehr übertrifft; zunächst nämlich der Sorge für die Zukunft, unter Berücksichtigung der Vergangenheit, sodann des absichtlichen, planmäßigen, methodischen Verfahrens bei jedem Vorhaben, daher des Zusammenwirkens Vieler zu Einem Zweck, mithin der Ordnung, des Gesetzes, des Staates u. s. w. (G. 101.)
Die Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, die Natur, die er vor Augen hat, treu auf der Leinwand wiederzugeben, und den Dichter, die anschauliche Gegenwart, mittelst abstrakter Begriffe, genau wieder hervorzurufen, indem er sie ausspricht und so zum deutlichen Bewusstsein bringt; imgleichen Alles, was die Übrigen bloß fühlen, in Worten auszudrücken. — Besonnenheit ist die Wurzel der Philosophie, der Kunst und Poesie. (W. II, 436.) Vermöge seiner Objektivität nimmt das Genie mit Besonnenheit alles Das wahr, was die Andern nicht sehen. Dies gibt ihm die Fähigkeit, die Natur so anschaulich und lebhaft als Dichter zu schildern, oder als Maler darzustellen. (P. II, 451.)

3) Die Grade der Besonnenheit.

Die Grade der Deutlichkeit des Bewusstseins, mithin der Besonnenheit, können angesehen werden als die Grade der Realität des Daseins; denn die unmittelbare Realität ist bedingt durch eigenes Bewusstsein. Nun aber sind im Menschengeschlecht die Grade der Besonnenheit oder des deutlichen Bewusstseins eigener und fremder Existenz gar vielfach abgestuft, nach Maßgabe der natürlichen Geisteskräfte, der Ausbildung derselben und der Muße zum Nachdenken. (P. II, 630.)

4) Bedingung des besonnenen Lebens.

Um mit vollkommener Besonnenheit zu leben, ist erfordert, dass man oft zurückdenke und was man erlebt, getan, erfahren und dabei empfunden hat rekapituliere, auch sein ehemaliges Urteil mit seinem gegenwärtigen, seinen Vorsatz und Streben mit dem Erfolg und der Befriedigung durch denselben vergleiche. Wer im Getümmel der Geschäfte, oder Vergnügungen, dahinlebt, ohne je seine Vergangenheit zu ruminieren, vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht klare Besonnenheit verloren. Dies ist um so mehr der Fall, je größer die äußere Unruhe, die Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Tätigkeit seines Geistes ist. (P. II, 444; N. 8.)