Bescheidenheit.
1) Wurzel der Lobreden auf die Bescheidenheit.
Wer selbst Verdienst hat, lässt auch die echten und wirklichen Verdienste Anderer gelten. Aber der, dem selbst Vorzüge und Verdienste mangeln, wünscht, dass es gar keine gäbe; ihr Anblick an Anderen erregt seinen Neid, er möchte alle persönlich Bevorzugten ausrotten. Muss er sie aber leider leben lassen, so soll es nur unter der Bedingung sein, dass sie ihre Vorzüge verstecken. Dies ist die Wurzel der so häufigen Lobreden auf die Bescheidenheit. (W. II, 485; I, 277; P. II, 232.)
Die Bescheidenheit ist demnach eine zu Gunsten der platten Gewöhnlichkeit
erfundene, schlaue Tugend, welche dennoch, eben durch die in
ihr an den Tag gelegte Notwendigkeit der Schonung der Armseligkeit,
diese gerade ans Licht zieht. (P. II, 232.) Die Tugend der Bescheidenheit
ist bloß zur Schutzwehr gegen den Neid erfunden worden.
(P. II, 496.) Unfehlbarer daher noch, als Göthes:
Nur die Lumpen sind bescheiden, wäre die Behauptung gewesen: Die, welche so eifrig von Anderen Bescheidenheit fordern, auf Bescheidenheit dringen, sind zuverlässig Lumpen. (W. II, 485.)
2) Unverträglichkeit der Bescheidenheit mit Verdienst und Genie.
Es gehört zu den nachgesprochenen Irrtümern:Verdienst und Genie sind aufrichtig bescheiden.(P. II, 64.)
Bescheidenheit in einem großen Geiste würde den Leuten wohl gefallen,
nur ist sie leider eine contradictio in adjecto. Denn ein solcher
kann nichts Großes schaffen, ohne die Art und Weise, die Gedanken
und Ansichten seiner Zeitgenossen für nichts zu achten. Ohne diese
Arroganz wird kein großer Mann. (P. II, 85 fg.) Es ist so unmöglich,
dass wer Verdienste hat und weiß was sie kosten, selbst blind
dagegen sei, wie dass ein Mann von sechs Fuß Höhe nicht merke, dass
er die Anderen überragt. Horaz, Lucrez, Ovid und fast alle Alten
haben stolz von sich geredet, desgleichen Dante, Shakespeare, Bako
von Verulam und Viele mehr. Dass Einer ein großer Geist sein
könne, ohne etwas davon zu merken, ist eine Absurdität. (W. II, 484;
P. II, 496.)
Bescheidenheit bei mittelmäßigen Fähigkeiten ist bloße Ehrlichkeit, bei
großen Talenten ist sie Heuchelei. Darum ist Diesen offen ausgesprochenes
Selbstgefühl und unverhohlenes Bewusstsein ungewöhnlicher
Kräfte gerade so wohlanständig, als Jenen ihre Bescheidenheit (P. II,
638; W. I, 277.)