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Schopenhauers Kosmos

 

 Anatomie.

1) Sie lehrt den Willen als das Wesen des Leibes kennen.

Die Anatomie und Physiologie lässt uns sehen, wie sich der Wille benimmt, um das Phänomen des Lebens zu Stande zu bringen und eine Weile zu unterhalten. (W. II, 337.)
Die vergleichende Anatomie bestätigt durch ihre Tatsachen a posteriori die Lehre der Schopenhauerschen Philosophie, dass der organische Leib Wille, in der Erkenntnisform des Raumes angeschaut, sei; dass demnach, wie jeder einzelne momentane Willensakt sich in der äußeren Anschauung des Leibes als eine Aktion desselben darstellt, so auch das Gesamtwollen jedes Tieres, der Inbegriff aller seiner Bestrebungen, sein getreues Abbild haben müsse an dem ganzen Leibe selbst, an der Beschaffenheit seines Organismus, und zwischen den Zwecken seines Willens überhaupt und den Mitteln zur Erreichung derselben, die seine Organisation ihm darbieten, die allergenaueste Übereinstimmung sein müsse. Oder kurz: der Gesamtcharakter seines Willens müsse zur Gestalt und Beschaffenheit seines Leibes in eben dem Verhältnisse stehen, wie der einzelne Willensakt zur einzelnen ihn ausführenden Leibesaktion. (N. 34.) Sowohl die am Knochengerüste sich zeigende genaue Angemessenheit des Baues zu den Zwecken und äußern Lebensverhältnissen des Tieres, als auch die so bewunderungswürdige Zweckmäßigkeit und Harmonie im Getriebe seines Inneren wird durch keine andere Erklärung oder Annahme auch nur entfernterweise so begreiflich, wie durch die Wahrheit, dass der Leib des Tieres eben nur sein Wille selbst ist, angeschaut als Vorstellung, mithin unter den Formen des Raumes, der Zeit und der Kausalität im Gehirne, — also die bloße Sichtbarkeit, Objektität des Willens. (N. 54.) Man betrachte die zahllosen Gestalten der Tiere. Wie ist doch jedes durchweg nur das Abbild seines Willens, der sichtbare Ausdruck der Willensbestrebungen, die seinen Charakter ausmachen. Von dieser Verschiedenheit der Charaktere ist die der Gestalten bloß das Bild. (N. 45.)

2) Sie lehrt die Einheit des Willens zum Leben auf den verschiedenen Stufen seiner Erscheinung kennen.

Da in allen Ideen, d. h. in allen Kräften der unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur einer und derselbe Wille es ist, der sich offenbart, d. h. in die Form der Vorstellung, in die Objektität, eingeht, so muss sich seine Einheit auch durch eine innere Verwandtschaft zwischen allen seinen Erscheinungen zu erkennen geben. Diese nun offenbart sich auf den höheren Stufen seiner Objektität, im Pflanzen- und Tierreich, durch die allgemein durchgreifende Analogie aller Formen, den Grundtypus, der in allen Erscheinungen sich wiederfindet. Dieser wird am vollständigsten in der vergleichenden Anatomie nachgewiesen, als l'unité de plan, l'unité de l'élément anatomique. (W. I, 170.) Dieses anatomische Element bleibt, wie Geoffroy Saint-Hilaire gründlich nachweist, in der ganzen Reihe der Wirbeltiere dem Wesentlichen nach unverändert, ist eine konstante Größe, ein zum Voraus schlechthin Gegebenes, durch eine unergründliche Notwendigkeit unwiderruflich Festgesetztes, dessen Unwandelbarkeit der Beharrlichkeit der Materie unter allen physischen und chemischen Veränderungen vergleichbar ist. (N. 52.) Dieses feststehende, unwandelbare anatomische Element fällt nicht innerhalb der teleologischen Erklärung, sondern deutet auf ein von der Teleologie unabhängiges Prinzip, welches jedoch das Fundament ist, auf dem sie baut, oder der zum Voraus gegebene Stoff zu ihren Werken. (W. II, 378 und N. 53.) Es beruht teils auf der Einheit und Identität des Willens zum Leben überhaupt, teils darauf, dass die Urformen der Tiere eine aus der anderen hervorgegangen sind und daher der Grundtypus des ganzen Stammes beibehalten wurde. Das anatomische Element ist es, was Aristoteles unter seiner αναγκαια φυσις versteht. (N. 54.)

3) Ethischer Nutzen des Studiums der Anatomie.

Die Beschäftigung mit Zoologie und Anatomie ist auch in ethischer Hinsicht nützlich, weil sie entschieden die Identität des Wesentlichen in der Erscheinung des Tieres und der des Menschen zum Bewusstsein bringt und dadurch der Rohheit und Barbarei in der Behandlung der Tiere, dem Vorurteil der Rechtlosigkeit der Tiere entgegenwirkt und den Tierschutz befördert. (E. 238 ff.)