1) Das Abstrakte als Gegensatz des Intuitiven.
Der Hauptunterschied zwischen allen unseren Vorstellungen ist der des
Intuitiven (Anschaulichen) und Abstrakten (aus dem Anschaulichen
Abgezogenen). Letzteres macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus,
die Begriffe. (
W. I, 7.)
2) Abhängigkeit des Abstrakten von dem Intuitiven.
Alle abstrakte Erkenntnis, wie sie aus der anschaulichen entsprungen
ist, hat auch allen Wert allein durch ihre Beziehung auf diese, also
dadurch, dass ihre Begriffe, oder deren Teilvorstellungen, durch Anschauungen
zu realisieren, d. h. zu belegen sind. Begriffe und Abstraktionen,
die nicht zuletzt auf Anschauungen hinleiten, gleichen Wegen im Walde,
die ohne Ausgang endigen. (
W. II, 89. I, 41.) Die abstrakte Vorstellung
hat ihr ganzes Wesen einzig und allein in ihrer Beziehung
auf eine andere Vorstellung, welche ihr Erkenntnisgrund ist. Diese
kann nun zwar wieder zunächst eine abstrakte Vorstellung sein, und sogar
auch diese wieder nur einen eben solchen abstrakten Erkenntnisgrund
haben; aber nicht so ins Unendliche, sondern zuletzt muss die Reihe der
Erkenntnisgründe mit einem Begriff schließen, der seinen Grund in der
anschaulichen Erkenntnis hat (
W. I, 48.) Daher hat die Klasse der
abstrakten Vorstellungen von den anderen das Unterscheidende, dass in
diesen der Satz vom Grund immer nur eine Beziehung auf eine andere
Vorstellung der nämlichen Klasse fordert, bei den abstrakten Vorstellungen
aber zuletzt eine Beziehung auf eine Vorstellung aus einer
anderen Klasse. (
W. I, 49.)
3) Bildung des Abstrakten aus dem Anschaulichen.
Bei der Bildung der abstrakten Vorstellungen zerlegt das Abstraktionsvermögen
die anschaulichen Vorstellungen in ihre Bestandteile, um diese
abgesondert, jeden für sich, denken zu können, als die verschiedenen
Eigenschaften oder Beziehungen der Dinge. Bei diesem Prozesse nun
aber büßen die Vorstellungen notwendig die Anschaulichkeit ein, wie
Wasser, wenn in seine Bestandteile zerlegt, die Flüssigkeit und Sichtbarkeit.
Denn jede also ausgesonderte (abstrahierte) Eigenschaft lässt sich
für sich allein wohl denken, jedoch darum nicht für sich allein auch
anschauen. Man hat solche Vorstellungen Begriffe genannt, weil
jede derselben unzählige Einzeldinge unter sich begreift, also ein Inbegriff
derselben ist. Man kann sie auch definieren als Vorstellungen aus Vorstellungen.
(
G. 97 fg.)
4) Verhältnis der abstrakten Erkenntnis zur intuitiven.
Die abstrakte Erkenntnis vereint oft mannigfaltige intuitive
Erkenntnisse in eine Form oder einen Begriff, so dass sie nun nicht
mehr zu unterscheiden sind. Daher sich die abstrakte Erkenntnis zur
intuitiven verhält wie der Schatten zu den wirklichen Gegenständen,
deren große Mannigfaltigkeit er durch einen sie alle befassenden
Umriss wiedergibt. (
W. I, 571.) Die anschauliche Erkenntnis erleidet
bei ihrer Aufnahme in die Reflexion beinahe so viel Veränderung, wie
die Nahrungsmittel bei ihrer Aufnahme in den tierischen Organismus,
dessen Formen und Mischungen durch ihn selbst bestimmt werden und
aus deren Zusammensetzung gar nicht mehr die Beschaffenheit der
Nahrungsmittel zu erkennen ist, — oder (weil dieses ein wenig zu viel
gesagt ist) die Reflexion verhält sich zur anschaulichen Erkenntnis keineswegs
wie der Spiegel im Wasser zu den abgespiegelten Gegenständen,
sondern kaum nur noch so, wie der Schatten dieser Gegenstände zu ihnen
selbst, welcher Schatten nur einige äußere Umrisse wiedergibt, aber auch
das Mannigfaltigste in dieselbe Gestalt vereinigt und das Verschiedenste
durch den nämlichen Umriss darstellt, so dass keineswegs von ihm ausgehend
sich die Gestalten der Dinge vollständig und sicher konstruieren
ließen. (
W. I, 538.)
5) Mittel zur Fixierung der abstrakten Vorstellungen.
Da die zu abstrakten Begriffen sublimierten und dabei zersetzten Vorstellungen
alle Anschaulichkeit eingebüßt haben, so würden sie dem Bewusstsein
ganz entschlüpfen und ihm zu den damit beabsichtigten Denkoperationen
gar nicht Stand halten, wenn sie nicht durch Zeichen
sinnlich fixiert und festgehalten würden: dies sind die Worte. (
G. 99)
6) Nutzen der abstrakten Vorstellungen.
Dadurch, dass die aus dem Anschaulichen abstrahierten Begriffe weniger
in sich enthalten als die Vorstellungen daraus sie abstrahiert worden,
sind sie leichter zu handhaben als diese, und verhalten sich zu ihnen
ungefähr, wie die Formeln in der höheren Arithmetik zu den Denkoperationen,
aus denen solche hervorgegangen sind und die sie vertreten,
oder wie der Logarithmus zu seiner Zahl. Sie enthalten von den vielen
Vorstellungen, aus denen sie abgezogen sind, gerade nur den Teil, den
man braucht; statt dass, wenn man jene Vorstellungen selbst durch die
Phantasie vergegenwärtigen wollte, man gleichsam eine Last von Unwesentlichem
mitschleppen müsste und dadurch verwirrt würde: jetzt aber,
durch Anwendung von Begriffen (abstrakten Vorstellungen), denkt man
nur die Teile und Beziehungen aller dieser Vorstellungen, die der
jedesmalige Zweck erfordert. Ihr Gebrauch ist demnach dem Abwerfen
unnützen Gepäcks, oder auch dem Operieren mit Quintessenzen, statt mit
den Pflanzenspezies selbst, zu vergleichen. (
G. 101.) Beim eigenen
Nachdenken ist die Abstraktion ein Abwerfen unnützen Gepäcks zum
Behuf leichterer Handhabung der zu vergleichenden und darum hin
und her zu werfenden Erkenntnisse. Man lässt nämlich dabei das viele
Unwesentliche, daher nur Verwirrende der realen Dinge weg und operiert
mit wenigen aber wesentlichen
in abstrakto gedachten Bestimmungen.
Aber eben, weil die Allgemeinbegriffe nur durch Wegdenken und Auslassen
vorhandener Bestimmungen entstehen, und daher, je allgemeiner,
desto leerer sind, beschränkt der Nutzen jenes Verfahrens sich auf die
Verarbeitung unserer bereits erworbenen Erkenntnisse. Neue Grundeinsichten
hingegen sind nur aus der anschaulichen, als der allein vollen
und reichen Erkenntnis zu schöpfen mit Hilfe der Urteilskraft.
(
W. II, 68. 89.)
7) Unzulänglichkeit des Abstrakten.
Das Abstrakte kann das Anschauliche nie ersetzen, weil Begriffe stets
allgemein bleiben und daher auf das Einzelne nicht herab gelangen.
Daher die Unzulänglichkeit des Abstrakten für das praktische Leben, wo
doch das zu Behandelnde ein Einzelnes ist. Im Praktischen vermag
die intuitive Erkenntnis des Verstandes unser Tun und Benehmen unmittelbar
zu leiten, während die abstrakte der Vernunft es nur unter
Vermittlung des Gedächtnisses kann. Hieraus entspringt der Vorzug
der intuitiven Erkenntnis für alle die Fälle, die keine Zeit zur Überlegung
gestatten, also für den täglichen Verkehr, in welchem eben deshalb
die Weiber exzellieren. Auch erklärt sich hieraus, warum im wirklichen
Leben der Gelehrte, dessen Vorzug im Reichtum abstrakter
Erkenntnisse liegt, so sehr zurücksteht gegen den Weltmann, dessen Vorzug
in der vollkommenen intuitiven Erkenntnis besteht, die ihm ursprüngliche
Anlage verliehen und reiche Erfahrung ausgebildet hat. (
W. II, 80—82.)
Die abstrakte Erkenntnis hat ihren größten Wert in der Mitteilbarkeit
und in der Möglichkeit, fixiert aufbehalten zu werden. Erst hierdurch
wird sie für das Praktische so unschätzbar wichtig. (
W. I, 66.)
8) Gegen das Ausgehen von abstrakten Begriffen in der Philosophie.
In der Philosophie wird aus bloßen abstrakten Begriffen keine
Weisheit zu Tage gefördert. Weite, abstrakte, zumal aber durch keine
Anschauung zu realisierende Begriffe dürfen nie die Erkenntnisquelle,
der Ausgangspunkt oder der eigentliche Stoff des Philosophierens sein.
(
W. II, 92.) Das Operieren mit weiten Abstrakta, unter gänzlichem
Verlassen der anschaulichen Erkenntnis, aus der sie abgezogen worden
und welche daher die bleibende, naturgemäße Kontrolle derselben ist, war
zu allen Zeiten die Hauptquelle der Irrtümer des dogmatischen Philosophierens
(
W. II, 93.) Die erstaunliche Ärmlichkeit und marternde
Langweiligkeit jener philosophischen Schriften, welche mit weiten Abstrakta,
wie Endliches, Unendliches, — Sein, Nichtsein, Anderssein, — Einheit,
Vielheit, Mannigfaltigkeit, — Identität, Diversität, Indifferenz
u. s. w. operieren und auf solchem Material ihre Konstruktionen
aufbauen, erklärt sich daraus, dass weil durch dergleichen weite Abstrakta
unendlich Vieles gedacht wird, in ihnen nur äußerst wenig gedacht
werden kann; es sind leere Hüllen (
W. II, 91 fg.)