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Schopenhauers Kosmos

 

 Wissenschaft. Wissenschaften. Wissenschaftlichkeit.

1) Unfähigkeit der Tiere zur Wissenschaft.

Da den Tieren die Vernunft fehlt, so sind sie unfähig zur Wissenschaft. Neben Sprache und besonnenem Handeln ist Wissenschaft der dritte Vorzug, den die Vernunft dem Menschen gibt. (W. I, 73.)

2) Die Mutter aller Wissenschaften.

Der Satz vom Grunde ist die Mutter aller Wissenschaften. (S. unter Grund: Wichtigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde.)

3) Die zwei Haupt-Data jeder Wissenschaft.

Jede Wissenschaft geht immer von zwei Haupt-Daten aus. Deren eines ist allemal der Satz vom Grunde in irgend einer Gestalt, als Organon; das andere ihr besonderes Objekt, als Problem. So hat z. B. die Geometrie den Raum als Problem, den Grund des Seins in ihm als Organon; die Arithmetik hat die Zeit als Problem, und den Grund des Seins in ihr als Organon; die Logik hat die Verbindungen der Begriffe als solche zum Problem, den Grund des Erkennens zum Organon; die Geschichte hat die geschehenen Taten der Menschen im Großen und in Masse zum Problem, das Gesetz der Motivation als Organon; die Naturwissenschaft hat die Materie als Problem und das Gesetz der Kausalität als Organon. (W. I, 34.)

4) Form der Wissenschaft.

a) Die systematische Form als wesentliches Merkmal der Wissenschaft und als Vorzug derselben vor dem bloßen Wissen.

Alles Wissen, d. h. zum Bewusstsein in abstrakto erhobene Erkenntnis (vergl. Wissen), verhält sich zur eigentlichen Wissenschaft, wie ein Bruchstück zum Ganzen. Jeder Mensch hat durch Erfahrung, durch Betrachtung des sich darbietenden Einzelnen, ein Wissen um mancherlei Dinge erlangt; aber nur wer sich die Aufgabe macht, über irgend eine Art von Gegenständen vollständige Erkenntnis in abstrakto zu erlangen, strebt nach Wissenschaft. Durch den Begriff allein kann er jene Art aussondern; daher steht an der Spitze jeder Wissenschaft ein Begriff, durch welchen der Teil aus dem Ganzen aller Dinge gedacht wird, von welchem sie eine vollständige Erkenntnis in abstrakto verspricht. Der Weg, den die Wissenschaft zur Erkenntnis geht, vom Allgemeinen zum Besonderen, unterscheidet sie vom gemeinen Wissen; daher ist die systematische Form ein wesentliches und charakteristisches Merkmal der Wissenschaft. (W. I, 74. 208 fg. 537.)
Jede Wissenschaft ist ein System von Erkenntnissen, d. h. ein Ganzes von verknüpften Erkenntnissen, im Gegensatz des bloßen Aggregats derselben. Das eben zeichnet jede Wissenschaft vor dem bloßen Aggregat aus, dass ihre Erkenntnisse eine aus der andern, als ihrem Grunde, folgen. Der Satz vom zureichenden Grunde ist das Verbindende der Glieder eines Systems. (G. 4.)
Jede Wissenschaft besteht aus einem System allgemeiner, folglich abstrakter Wahrheiten, Gesetze und Regeln in Bezug auf irgend eine Art von Gegenständen. Der unter diesen nachher vorkommende einzelne Fall wird nun jedesmal nach jenem allgemeinen Wissen, welches ein für alle Mal gilt, bestimmt; weil solche Anwendung des Allgemeinen unendlich leichter ist, als den vorkommenden einzelnen Fall für sich von Vorne zu untersuchen. (W. I, 53. 74.)

b) Wert der systematischen Form.

Die systematische Form, nämlich Unterordnung alles Besonderen unter ein Allgemeines und so immerfort aufwärts, bringt es mit sich, dass die Wahrheit vieler Sätze nur logisch begründet wird, nämlich durch ihre Abhängigkeit von anderen Sätzen, also durch Schlüsse, die zugleich als Beweise auftreten. Man soll aber nie vergessen, dass diese ganze Form nur ein Erleichterungsmittel der Erkenntnis ist, nicht aber ein Mittel zu größerer Gewissheit. Es ist leichter, die Beschaffenheit eines Tieres aus der Spezies, zu der es gehört, und so aufwärts aus dem genus, der Familie, der Ordnung, der Klasse zu erkennen, als das jedesmal gegebene Tier für sich zu untersuchen; aber die Wahrheit aller durch Schlüsse abgeleiteten Sätze ist immer nur bedingt und zuletzt abhängig von irgend einer, die nicht auf Schlüssen, sondern auf Anschauung beruht. (W. I, 76. 81. Vergl. auch Gewissheit.)

c) Worin die Vollkommenheit einer Wissenschaft der Form nach besteht.

Die Vollkommenheit einer Wissenschaft als solcher, d. h. der Form nach, besteht darin, dass so viel wie möglich Subordination und wenig Koordination der Sätze sei. (W. I, 76.)

5) Gehalt der Wissenschaft.

Der Fonds oder Grundgehalt jeder Wissenschaft besteht nicht in den Beweisen, noch in dem Bewiesenen, sondern in dem Unbewiesenen, auf welches die Beweise sich stützen und welches zuletzt nur anschaulich erfasst wird. (W. II, 83. 97. Vergl. Beweis.)
Anschauung, teils reine a priori, wie sie die Mathematik, teils empirische a posteriori, wie sie alle anderen Wissenschaften begründet, ist die Quelle aller Wahrheit und die Grundlage aller Wissenschaft. (Auszunehmen ist allein die auf nichtanschauliche, aber doch unmittelbare Kenntnis der Vernunft von ihren eigenen Gesetzen gegründete Logik.) Nicht die bewiesenen Urteile, noch ihre Beweise, sondern die aus der Anschauung unmittelbar geschöpften und auf sie, statt alles Beweises, gegründeten Urteile sind in der Wissenschaft Das, was die Sonne im Weltgebäude. Unmittelbar aus der Anschauung die Wahrheit solcher ersten Urteile zu begründen, solche Grundfesten der Wissenschaft aus der unübersehbaren Menge realer Dinge herauszuheben, das ist das Werk der Urteilskraft. (Vergl. Urteilskraft.) Nur ausgezeichnete und das gewöhnliche Maß überschreitende Stärke derselben kann die Wissenschaften wirklich weiter fördern. (W. I, 77; II, 96 fg.)

6) Zweck der Wissenschaft.

Zweck der Wissenschaft ist nicht größere Gewissheit, sondern Erleichterung des Wissens durch die Form desselben und dadurch gegebene Möglichkeit der Vollständigkeit des Wissens. (W. I, 76. Vergl. Gewissheit.)

7) Das Ungenügende der Wissenschaft.

Alle Wissenschaft im eigentlichen Sinne, worunter die systematische Erkenntnis am Leitfaden des Satzes vom Grunde zu verstehen ist, kann nie ein letztes Ziel erreichen, noch eine völlig genügende Erklärung geben, weil sie das innerste Wesen der Welt nie trifft, nie über die Vorstellung hinaus kann, vielmehr im Grunde nichts weiter, als das Verhältnis einer Vorstellung zur anderen kennen lehrt. Jede Wissenschaft lässt immer etwas unerklärt, welches sie schon voraussetzt. (W. I, 33 fg. 217. H. 299. Vergl. auch Erklärung.)

8) Unterschied der Wissenschaften in Hinsicht auf Subordination und Koordination.

Die Zahl der oberen Sätze, welchen die übrigen alle untergeordnet sind, ist in den verschiedenen Wissenschaften sehr verschieden, so dass in einigen mehr Subordination, in anderen mehr Koordination ist; in welcher Hinsicht jene mehr die Urteilskraft, diese das Gedächtnis in Anspruch nehmen. Die eigentlich klassifizierenden Wissenschaften: Zoologie, Botanik, auch Physik und Chemie haben die meiste Subordination; hingegen hat Geschichte eigentlich gar keine und ist daher, genau genommen, zwar ein Wissen, aber keine Wissenschaft. Die Mathematik hingegen ist in jeder Hinsicht Wissenschaft. (W. I, 75. Vergl. Geschichte und Mathematik.)

9) Unterschied der Wissenschaften in Hinsicht auf Begreiflichkeit.

Je mehr es die Wissenschaften mit dem Apriorischen zu tun haben, d. h. mit dem den Formen der Vorstellung Angehörigen, welche das Prinzip der Verständlichkeit sind, desto mehr Begreifliches ist in ihnen; je mehr empirischen, aposteriorischen Gehalt sie hingegen haben, desto mehr Unbegreifliches. Demgemäß hat man völlige, durchgängige Begreiflichkeit nur so lange, als man sich ganz auf dem apriorischen Gebiete hält, also in der reinen Mathematik und Logik. Die angewandte Mathematik hingegen, also Mechanik, Hydraulik u. s. w., welche die niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens betrachten, hat schon ein empirisches Element, an welchem die Fasslichkeit sich trübt und das Unerklärliche eintritt. Höher hinauf in der Wesenleiter fällt die mathematische Behandlung ganz weg, weil der Gehalt der Erscheinung die Form überwiegt. Dieser Gehalt ist der Wille, das Aposteriori, das Ding an sich, das Freie, das Grundlose. (N. 86. Vergl. unter Erkenntnis: Objektiver Gehalt der Erkenntnis, und unter Mathematik: Worauf die Unfehlbarkeit und Klarheit der Mathematik beruht.)

10) Einteilung der Wissenschaften.

Da in jeder Wissenschaft Eine der Gestaltungen des Satzes vom Grunde (vergl. unter Grund: Die vier Gestalten) vor den übrigen der Leitfaden ist; so lässt sich die oberste Einteilung der Wissenschaften am Treffendsten nach diesem Prinzip ausführen. (G. 157. W. I, 97.) Ein Versuch dieser Einteilung, der jedoch mancher Verbesserung und Vervollständigung fähig sein wird, ist folgender (W. II, 139):
  1. Reine Wissenschaften a priori.
    1. Die Lehre vom Grunde des Seins.
      1. im Raum: Geometrie.
      2. in der Zeit: Arithmetik und Algebra.
    2. Die Lehre vom Grunde des Erkennens: Logik.
  2. Empirische oder Wissenschaften a posteriori.
    Sämtlich nach dem Grunde des Werdens, d. i. dem Gesetz der Kausalität und zwar nach dessen drei Formen: Ursache, Reiz und Motiv.
    1. Die Lehre von den Ursachen.
      1. Allgemeine: Mechanik, Hydrodynamik, Physik, Chemie.
      2. Besondere: Astronomie, Mineralogie, Geologie, Technologie, Pharmazie.
    2. Die Lehre von den Reizen.
      1. Allgemeine: Physiologie der Pflanzen und Tiere, nebst deren Hilfswissenschaft Anatomie.
      2. Besondere: Botanik, Zoologie, Zootomie, vergleichende Physiologie, Pathologie, Therapie.
    3. Die Lehre von den Motiven.
      1. Allgemeine: Ethik, Psychologie.
      2. Besondere: Rechtslehre, Geschichte.

11) Worin das wissenschaftliche Talent besteht.

Das allgemein wissenschaftliche Talent ist die Fähigkeit, die Begriffssphären (vergl. unter Begriff: die Begriffssphären) nach ihren verschiedenen Bestimmungen zu subordinieren, damit, wie Platon wiederholentlich anempfiehlt, nicht bloß ein Allgemeines und unmittelbar unter diesem eine unübersehbare Mannigfaltigkeit neben einander gestellt die Wissenschaft ausmache, sondern vom Allgemeinsten zum Besonderen die Kenntnis allmählich herabschreite, durch Mittelbegriffe und nach immer näheren Bestimmungen gemachte Einteilungen. Nach Kant’s Ausdrücken heißt dies, dem Gesetze der Homogenität und dem der Spezifikation gleichmäßig Genüge leisten. (W. I, 76. Vergl. Methode.)

12) Unumgängliche Bedingung der Erlernung einer Wissenschaft.

Die Verbindung der allgemeinsten Begriffssphären jeder Wissenschaft, d. h. die Kenntnis ihrer obersten Sätze, ist unumgängliche Bedingung ihrer Erlernung; wie weit man von diesen auf die mehr besonderen Sätze gehen will, ist beliebig und vermehrt nicht die Gründlichkeit, sondern den Umfang der Gelehrsamkeit. (W. I, 75.)

13) Schädlicher Einfluss der Neuerer auf den Gang der Wissenschaften.

In den Wissenschaften will Jeder, um sich geltend zu machen, etwas Neues zu Markte bringen; dies besteht oft bloß darin, dass er das bisher geltende Richtige umstößt. Den Neuren ist es mit Nichts in der Welt Ernst, als mit ihrer werten Person, die sie geltend machen wollen. So werden längst erkannte Wahrheiten geleugnet, z. B. die Lebenskraft, die generatio aequivoca, es wird zum krassen Atomismus zurückgekehrt u. s. w. Daher ist der Gang der Wissenschaften oft ein retrograder. (P. II, 539.)

14) Unterschied der Kunst von der Wissenschaft.

(S. Kunst.)

15) Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften.

(S. Philosophie.)