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Schopenhauers Kosmos

 

 Metempsychose.

1) Inhalt und hoher Wert des Mythos von der Metempsychose.

Die Erkenntnis der ewigen Gerechtigkeit (s. unter Gerechtigkeit: die ewige Gerechtigkeit), welche gänzliche Erhebung über die Individualität und das Prinzip ihrer Möglichkeit erfordert, wird der Mehrzahl der Menschen stets nur in Form des Mythos zugänglich bleiben. Das Volk empfing daher ein Surrogat jener großen Wahrheit, welches als Regulativ für das Handeln hinreichend war, in dem Mythos von der Seelenwanderung. Derselbe lehrt, dass alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen verhängt, in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau durch die selben Leiden wieder abgebüßt werden müssen. Er lehrt, dass böser Wandel ein künftiges Leben, auf dieser Welt, in leidenden und verachteten Wesen nach sich zieht. Alle Qualen, die der Mythos droht, belegt er mit Anschauungen aus der wirklichen Welt, durch leidende Wesen, welche auch nicht wissen, wie sie ihre Qual verschuldet haben, und er braucht keine andere Hölle zu Hilfe zu nehmen. Als Belohnung aber verheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren, edleren Gestalten. Die höchste Belohnung, welche der edelsten Taten und der völligen Resignation wartet, kann der Mythos in der Sprache dieser Welt nur negativ ausdrücken, durch die Verheißung, gar nicht mehr wiedergeboren zu werden. — Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralte Lehre des ältesten und edelsten Volkes. Jenes non plus ultra mythischer Darstellung haben daher schon Pythagoras und Platon mit Bewunderung aufgefasst, von Indien oder Ägypten herübergenommen, verehrt, angewandt und, wir wissen nicht wie weit, selbst geglaubt. (W. I, 419—421.) Die Lehre von der Metempsychose entfernt sich von der Wahrheit bloß dadurch, dass sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist. Sie lässt nämlich mein inneres Wesen an sich erst nach meinem Tode in Andern dasein, während der Wahrheit nach es schon jetzt auch in ihnen lebt, und der Tod bloß die Täuschung, vermöge deren ich dessen nicht inne werde, aufhebt. (W. II, 688 fg.)

2) Allgemeine Verbreitung der Lehre von der Metempsychose.

Die Lehre von der Metempsychose, aus den urältesten und edelsten Zeiten des Menschengeschlechts stammend, war stets auf der Erde verbreitet als der Glaube der großen Majorität des Menschengeschlechts, ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jüdischen und der zwei von dieser ausgegangenen; am subtilsten jedoch und der Wahrheit am nächsten kommend im Buddhismus. (Vergl. Buddhismus.) Während demgemäß die Christen sich trösten mit dem Wiedersehen in einer anderen Welt, ist in jenen übrigen Religionen das Wiedersehen schon jetzt im Gange, jedoch inkognito; nämlich im Kreislauf der Geburten und kraft der Metempsychose, oder Palingenesie, werden die Personen, welche jetzt in naher Verbindung oder Berührung mit uns stehen, auch bei der nächsten Geburt zugleich mit uns geboren. — Was dem über das ganze Menschengeschlecht verbreiteten und den Weisen, wie dem Volke einleuchtenden Glauben an Metempsychose entgegensteht ist das Judentum, nebst den aus diesem entsprossenen zwei Religionen mit ihrer Lehre von der Schöpfung des Menschen aus Nichts. Wie schwer es ihnen jedoch geworden, jenen tröstlichen Urglauben der Menschheit zu verdrängen, bezeugt die älteste Kirchengeschichte. Die Juden selbst sind zum Teil hineingeraten. Im Christentum ist übrigens an die Stelle der Seelenwanderung und der Abbüßung aller in einem früheren Leben begangenen Sünden durch dieselbe die Lehre von der Erbsünde getreten, d. h. von der Buße für die Sünde eines anderen Individuums. Beide nämlich identifizieren, und zwar mit moralischer Tendenz, den vorhandenen Menschen mit einem früher dagewesenen, die Seelenwanderung unmittelbar, die Erbsünde mittelbar. (W. II, 575—579.)

3) Vernunftgemäßheit des Glaubens an Metempsychose.

Der Glaube an Metempsychose stellt sich, wenn man auf seine allgemeine Verbreitung sieht, dar als die natürliche Überzeugung des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend nachdenkt. Er wäre demnach wirklich Das, was Kant fälschlich von seinen drei vorgeblichen Ideen der Vernunft behauptet, nämlich ein der menschlichen Vernunft natürliches, aus ihren eigenen Formen hervorgehendes Philosophem; und wo er sich nicht findet, wäre er durch positive, anderweitige Religionslehren erst verdrängt. Auch leuchtet er Jedem, der zum ersten Mal davon hört, sogleich ein. (W. II, 578.) Der Mythos von der Seelenwanderung könnte, in Kants Sprache, ein Postulat der praktischen Vernunft genannt werden; als ein solches betrachtet aber hat er den Vorzug, gar keine Elemente zu enthalten, als die im Reiche der Wirklichkeit vor unseren Augen liegen, und daher alle seine Begriffe mit Anschauungen belegen zu können. (W. I, 420.)

4) Der moralische Sinn der Metempsychose.

Der moralische Sinn der Metempsychose in allen indischen Religionen ist nicht bloß, dass wir jedes Unrecht, welches wir verüben, in einer folgenden Wiedergeburt abzubüßen haben; sondern auch, dass wir jedes Unrecht, welches uns widerfährt, ansehen müssen als wohlverdient, durch unsere Missetaten in einem früheren Dasein. (P. II, 430.)

5) Unterschied zwischen Metempsychose und Palingenesie.

Sehr wohl könnte man unterscheiden Metempsychose, als Übergang der gesamten sogenannten Seele in einen anderen Leib, — und Palingenesie, als Zersetzung und Neubildung des Individuums, indem allein sein Wille beharrt und, die Gestalt eines neuen Wesens einnehmend, einen neuen Intellekt erhält. (P. II, 293 fg. W. II, 574 fg. — Vergl. unter Individuation. Individualität: Zersetzung des Individuums durch den Tod.) Mit dieser Ansicht stimmt auch die eigentliche, so zu sagen esoterische Lehre des Buddhismus überein, indem sie nicht Metempsychose, sondern eine eigentümliche, auf moralischer Basis ruhende Palingenesie lehrt. (W. II, 574. P. II, 293. — Vergl. Buddhismus.)