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Schopenhauers Kosmos

 

 Lebenskraft.

1) Gegen das Leugnen der Lebenskraft.

Das Leugnen der Lebenskraft ist absurd. Wenn nicht eine eigentümliche Naturkraft, der es so wesentlich ist, zweckmäßig zu verfahren, wie der Schwere wesentlich, die Körper einander zu nähern, das ganze komplizierte Getriebe des Organismus bewegt, lenkt, ordnet; nun dann ist das Leben ein falscher Schein, eine Täuschung, und ist in Wahrheit jedes Wesen ein bloßes Automat, d. h. ein Spiel mechanischer, physikalischer und chemischer Kräfte. Allerdings wirken im Organismus physikalische und chemische Kräfte; aber was diese zusammenhält und lenkt, so dass ein zweckmäßiger Organismus daraus wird und besteht, — das ist die Lebenskraft. (P. II, 172 fg. N. Vorr. VI.) Die Lebenskraft benutzt allerdings und gebraucht die Kräfte der unorganischen Natur, besteht jedoch keineswegs aus ihnen; so wenig wie der Schmied aus dem Hammer und Amboss. Daher wird nie auch nur das so höchst einfache Pflanzenleben aus ihnen, etwa aus der Haarröhrchenkraft und der Endosmose, erklärt werden können, geschweige das tierische Leben. (W. I, 169.)

2) Gegensatz zwischen der Lebenskraft und den anderen Naturkräften.

Man hat einen fundamentalen Unterschied der Lebenskraft von allen anderen Naturkräften darin finden wollen, dass sie den Körper, von dem sie einmal gewichen ist, nicht wieder in Besitz nimmt. Von den Kräften der unorganischen Natur weichen einige, wie Magnetismus und Elektrizität, nur ausnahmsweise von dem Körper, den sie einmal beherrschen; andere, wie die Schwere und die chemische Qualität, weichen nie von einem Körper. Die Lebenskraft aber kann, nachdem sie einen Körper verlassen hat, ihn nicht wieder in Besitz nehmen. Der Grund davon ist, dass sie nicht, wie die Kräfte der unorganischen Natur an dem bloßen Stoff, sondern zunächst an der Form haftet. Ihre Tätigkeit besteht ja eben in der Hervorbringung und Erhaltung dieser Form; daher ist, sobald sie von einem Körper weicht, auch schon seine Form zerstört. Nun aber hat die Hervorbringung der Form ihren regelmäßigen, planmäßigen Hergang in bestimmter Sukzession. Daher muss die Lebenskraft, wo immer sie von Neuem eintritt, auch ihr Gewebe von vorn, ab ovo anfangen. (P. II, 173 fg.)

3) Die Lebenskraft an sich und ihre drei Erscheinungsformen.

An sich ist die Lebenskraft der Wille. Sie ist geradezu identisch mit dem Willen, so dass, was im Selbstbewusstsein als Wille auftritt, im bewusstlosen, organischen Leben jenes primum mobile desselben ist, welches sehr passend als Lebenskraft bezeichnet worden. (P. II, 173 fg. W. II, 335.) Die Zurückführung der Lebenskraft auf Willen steht der alten Einteilung ihrer Funktionen in Reproduktionskraft, Irritabilität und Sensibilität durchaus nicht entgegen. Diese bleibt eine tiefgefasste Unterscheidung. (N. 31. W. II, Kap. 20.) An sich ist die Lebenskraft nur eine, welche, — als Urkraft, als metaphysisch, als Ding an sich, als Wille, — unermüdlich, also keiner Ruhe bedürftig ist. Jedoch ihre Erscheinungsformen, Irritabilität, Sensibilität und Reproduktivität, ermüden allerdings und bedürfen der Ruhe; eigentlich wohl nur, weil sie allererst mittelst der Überwindung der Willenserscheinungen niedrigerer Stufen, die ein früheres Recht an die selbe Materie haben, den Organismus hervorbringen, erhalten und beherrschen. (P. II, 174—177. W. I, 174.)
Die Lebenskraft kann nicht gleichzeitig unter ihren drei Formen, sondern immer nur unter einer ganz und ungeteilt, daher mit voller Macht wirken. (P. II, 175.)

4) Die drei Funktionen der Lebenskraft als Unterscheidungsmerkmale zwischen Pflanze, Tier und Mensch.

Die Reproduktionskraft, objektiviert im Zellgewebe, ist der Hauptcharakter der Pflanze und das Pflanzliche im Menschen. Wenn sie in ihm überwiegend vorherrscht, vermuten wir Phlegma, Trägheit, Stumpfsinn (Böotier). — Die Irritabilität, objektiviert in der Muskelfaser, ist der Hauptcharakter des Tieres und ist das Tierische im Menschen. Wenn sie in ihm überwiegend vorherrscht, findet sich Behändigkeit, Stärke, Tapferkeit (Spartaner). — Die Sensibilität, objektiviert im Nerven, ist der Hauptcharakter des Menschen und ist das eigentlich Menschliche im Menschen. Überwiegend vorherrschend gibt sie Genie (Athener). (N. 31 fg.)

5) Die Lebenskraft als Heilkraft.

Die Lebenskraft wirft während des Schlafes, d. h. des Einstellens aller animalischen Funktionen, sich gänzlich auf das organische Leben, und ist daselbst, unter einiger Verringerung des Atmens, des Pulses, der Wärme, auch fast aller Sekretionen, hauptsächlich mit der langsamen Reproduktion, der Herstellung alles Verbrauchten, der Heilung alles Verletzten und der Beseitigung aller eingerissenen Unordnungen, beschäftigt, daher der Schlaf die Zeit ist, während welcher die vis naturae medicatrix in allen Krankheiten die heilsamen Krisen herbeiführt, in welchen sie alsdann den entscheidenden Sieg über das vorhandene Übel erkämpft, und wonach daher der Kranke, mit dem sichern Gefühl der herankommenden Genesung, erleichtert und freudig erwacht. Aber auch bei dem Gesunden wirkt sie das Selbe, nur in ungleich geringerem Grade an allen Punkten, wo es nötig ist. (P. I, 249. 275; II, 175. 185. W. II, 240. 295. 396. — Vergl. auch Krankheit.)

6) Die Lebenskraft in der Jugend und im Alter.

Hinsichtlich der Lebenskraft sind wir bis zum 36ten Jahre Denen zu vergleichen, welche von ihren Zinsen leben. Aber von jenem Zeitpunkt an ist unser Analogon der Rentier, welcher anfängt, sein Kapital anzugreifen. (P. I, 517 fg.)