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Schopenhauers Kosmos

 

 Leben.

A. Das physische Leben.

1) Wesen des Lebens und Gegensatz des Lebenden gegen das Leblose.

Das Leben lässt sich definieren als der Zustand eines Körpers, in welchem er unter beständigem Wechsel der Materie seine ihm wesentliche (substantielle) Form allezeit behält. (P. II, 172.) Das Wesentliche alles Lebens ist allein der beständige Wechsel der Materie beim Beharren der Form. (P. II, 143. W. II, 335.)
Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat man gar oft dem Unorganischen ein Leben beilegen wollen; — sehr fälschlich. Lebendig und Organisch sind Wechselbegriffe; auch hört mit dem Tode das Organische auf, organisch zu sein. In der ganzen Natur aber ist keine Grenze so scharf gezogen, wie die zwischen Organischem und Unorganischem, d. h. Dem, wo die Form das Wesentliche und Bleibende, die Materie das Akzidentelle und Wechselnde ist, — und Dem, wo dies sich gerade umgekehrt verhält. Die Grenze schwankt hier nicht, wie vielleicht zwischen Tier und Pflanze, fest und flüssig, Gas und Dampf; also sie aufheben wollen heißt absichtlich Verwirrung in unsere Begriffe bringen. Hingegen kommt dem Leblosen, Unorganischen so gut, wie dem Lebendigen, Organischen, Wille zu. (N. 83 fg.) Das in unsern Tagen so beliebte Gerede vom Leben des Unorganischen, ja sogar des Erdkörpers, und dass dieser, wie auch das Planetensystem, ein Organismus sei, ist durchaus unstatthaft. Nur dem Organischen gebührt das Prädikat Leben. (W. II, 335 fg.)
Alle Lebensprozesse erfordern, um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl der Teile, worin sie vorgehen, als des Ganzen. Daher sagt Aristoteles mit Recht: ο βιος εν τη κινησει εστι. Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein Wesen in ihr. Daher das Schädliche der sitzenden Lebensweise. Sogar die Bäume bedürfen, um zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind. (P. I, 343.—466.) Der unorganische Körper hat seinen Bestand durch Ruhe und Abgeschlossenheit von äußeren Einflüssen; hierbei allein erhält sich sein Dasein, und, wenn dieser Zustand vollkommen ist, ist ein solcher Körper von endloser Dauer. Der organische hingegen hat seinen Bestand gerade durch die fortwährende Bewegung und stetes Empfangen äußerer Einflüsse; sobald diese wegfallen und die Bewegung in ihm stockt, ist er tot und hört damit auf organisch zu sein, wenn auch die Spur des dagewesenen Organismus noch eine Weile beharrt. (W. II, 335 fg.)

2) Die äußeren Ursachen des Lebens.

Der erste Anknüpfungspunkt des Lebens an die Außenwelt ist der Atmungsprozess; daher muss die Bewegung des Lebens als von ihm ausgehend und er als das erste Glied der Kausalkette gedacht werden. Demnach tritt als erster Impuls, also als erste äußere Ursache des Lebens ein wenig Luft auf, welche eindringend und oxydierend, fernere Prozesse einleitet und so das Leben zur Folge hat. Die zweite äußere Ursache des Lebens ist die Nahrung. Auch sie wirkt anfangs von außen, als Motiv, doch nicht so dringend und ohne Aufschub zu gestatten, wie die Luft; erst im Magen fängt ihre physiologische kausale Wirksamkeit an. (P. II, 178.)

3) Der Kampf des Lebens gegen die mechanischen und chemischen Kräfte.

Obgleich der Organismus kein zufälliges, durch das Wirken mechanischer und chemischer Kräfte hervorgebrachtes Phänomen ist, sondern eine höhere Idee, welche sich jene niedrigeren durch überwältigende Assimilation unterworfen hat; so ist doch kein Sieg ohne Kampf. Indem die höhere Idee nur durch Überwältigung der niedrigeren hervortreten kann, erleidet sie den Widerstand dieser. So unterhält der Organismus einen dauernden Kampf gegen die vielen physischen und chemischen Kräfte, welche, als niedrigere Ideen, ein früheres Recht auf die Materie haben. Daher sinkt der Arm, den man eine Weile mit Überwältigung der Schwere gehoben gehalten; daher ist das behagliche Gefühl der Gesundheit so oft von Unbehaglichkeit unterbrochen. Daher auch deprimiert die Verdauung alle animalischen Funktionen. Daher überhaupt die Last des physischen Lebens, die Notwendigkeit des Schlafes und zuletzt des Todes. (W. I, 173 fg.)

4) Der Gegensatz zwischen dem organischen und animalischen Leben.

Bichats Gegensatz von organischem und animalischem Leben entspricht dem Gegensatz von Wille und Intellekt. Alles, was die Welt als Wille und Vorstellung dem eigentlichen Willen zuschreibt, legt Bichat dem organischen Leben bei, und Alles, was sie als Intellekt fasst, ist bei ihm das animale Leben. Bichats Betrachtungen und die der Welt als Wille und Vorstellung unterstützen sich wechselseitig, wie physiologischer und philosophischer Kommentar. Jener geht vom Objektiven, d. h. vom Bewusstsein anderer Dinge, diese vom Subjektiven, vom Selbstbewusstsein aus. (W. II, 296—304.)

B. Charakter, Wert und Zweck des Lebens im Ganzen.

1) Der Lebenswille als blinder Drang.

Wille zum Leben, weit entfernt, eine beliebige Hypostase, oder gar ein leeres Wort zu sein, ist der allein wahre Ausdruck des innersten Wesens der Welt, wie der universelle Lebensdrang und das verzweifelte Sträuben und Wehren gegen den Tod in der Tier- und Menschenwelt beweist. Sehen wir uns nun aber den dürftigen Ertrag des ganzen mühseligen, auf Erhaltung des Lebens bedachten Treibens an, so müssen wir zu der Einsicht gelangen, dass der überschwänglich starke Hang aller Tiere und Menschen, das Leben zu erhalten und möglichst lange fortzusetzen, keineswegs das Resultat irgend einer objektiven Erkenntnis vom Werte des Lebens, sondern ein von aller Erkenntnis unabhängiges Ursprüngliches und Unbedingtes, ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivierter Trieb ist, oder mit anderen Worten, dass jene Wesen nicht als von vorne gezogen, sondern als von hinten getrieben sich darstellen. Nur aus der Ursprünglichkeit und Unbedingtheit des Willens zum Leben ist es erklärlich, dass der Mensch ein Dasein voll Not, Plage, Schmerz, Angst und dann wieder voll Langeweile, welches, rein objektiv betrachtet und erwogen, von ihm verabscheut werden müsste, über Alles liebt und dessen Ende über Alles fürchtet. Wie mit dem Ausharren im Leben, so ist es auch mit dem Treiben und der Bewegung desselben. Diese ist nicht etwas irgend frei Erwähltes, sondern, während eigentlich Jeder gern ruhen möchte, sind Not und Langeweile die Peitschen, welche die Bewegung der Kreisel unterhalten. Daher trägt das Ganze und jedes Einzelne das Gepräge eines erzwungenen Zustandes, und hier liegt, beiläufig gesagt, der Ursprung des Komischen, des Burlesken, Grotesken, der fratzenhaften Seite des Lebens. (W. II, Kap. 28.)
Die auf der ganzen Erde gebräuchliche Anwünschung langen Lebens lässt sich nicht wohl aus der Kenntnis, was das Leben, hingegen aus der, was der Mensch seinem Wesen nach sei, nämlich Wille zum Leben, erklären. (P. II, 620.)

2) Verwandtschaft zwischen Leben und Traum.

Die enge Verwandtschaft zwischen Leben und Traum ist von vielen großen Geistern anerkannt und ausgesprochen worden. Sie lässt sich gleichnisweise so ausdrücken: Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches. Das Lesen im Zusammenhang heißt wirkliches Leben. Wann aber die jedesmalige Lesestunde (der Tag) zu Ende und die Erholungszeit gekommen ist, so blättern wir oft noch müßig und schlagen, ohne Ordnung und Zusammenhang, bald hier, bald dort ein Blatt auf; oft ist es ein schon gelesenes, oft ein noch unbekanntes, aber immer aus dem selben Buch. So ein einzeln gelesenes Blatt ist zwar außer Zusammenhang mit der folgerechten Durchlesung; doch steht es hierdurch nicht so gar sehr hinter dieser zurück, wenn man bedenkt, dass auch das Ganze der folgerechten Lektüre eben so aus dem Stegreif anhebt und endigt und sonach nur als ein größeres einzelnes Blatt anzusehen ist. (W. I, 20 fg.)
Jedes Individuum und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum mehr des unendlichen Naturgeistes, des beharrlichen Willens zum Leben, ist nur ein flüchtiges Gebilde mehr, das er spielend hinzeichnet auf sein unendliches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehen lässt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen. (W. I, 379.)

3) Die tragische und die komische Seite des Lebens.

Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder der Poesie. (W. II, 426.) Das Leben im Ganzen und Allgemeinen übersehen ist immer ein Trauerspiel, im Einzelnen durchgegangen hat es den Charakter des Lustspiels. (W. I, 380. H. 371. 447.) Wenn man von der Betrachtung des Weltlaufs im Großen und zumal der reißend schnellen Sukzession der Menschengeschlechter und ihres ephemeren Scheindaseins sich hinwendet auf das Detail des Menschenlebens, wie etwa die Komödie es darstellt; so ist der Eindruck, den jetzt dieses macht, dem Anblick zu vergleichen, den, mittelst des Sonnenmikroskops, ein von Infusionstierchen wimmelnder Tropfen, oder ein sonst unsichtbares Häuflein Käsemilben gewährt, deren eifrige Tätigkeit und Streit uns zum Lachen bringt. Denn wie hier im engsten Raum, so dort in der kürzesten Spanne Zeit, wirkt die große und ernstliche Aktivität komisch. (P. II, 309.)

4) Die Unseligkeit des Lebens.

Alles Leben ist wesentlich Leiden. In dem Maße, als die Erscheinungen des Willens vollkommener werden, wird auch das Leiden mehr und mehr offenbar. Mit der Steigerung des Bewusstseins wächst auch die Qual, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht und dort wieder um so mehr, je intelligenter er ist. (W. I, 365 fg.) Das beständige Streben ohne Ziel und Rast, das uns schon in der erkenntnislosen Natur als deren inneres Wesen entgegentrat, tritt uns bei der Betrachtung des Tieres und des Menschen noch deutlicher entgegen. Wollen und Streben ist sein ganzes Wesen, einem unlöschbaren Durst vergleichbar. Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile. Sein Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langeweile, welche beide in der Tat dessen letzte Bestandteile sind. (W. I, 367—371; II, 406. — Vergl. auch Langeweile.)
Wovon uns schon die Untersuchung der ersten elementaren Grundzüge des Menschenlebens a priori überzeugt, dass nämlich dasselbe schon der ganzen Anlage nach keiner wahren Glückseligkeit fähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand ist, — davon ist die Bestätigung a posteriori überall leicht zu haben. (W. I, 382 fg.; II, Kap. 46. P. II, Kap. 12. H. 421 fg. — Vergl. auch Glückseligkeit.)

5) Zweck des Lebens.

Die Pantheisten entblöden sich nicht, zu sagen, das Leben sei Selbstzweck. Wenn dieses unser Dasein der letzte Zweck der Welt wäre; so wäre es der albernste Zweck, der je gesetzt worden, möchten nun wir selbst, oder ein Anderer ihn gesetzt haben. (P. II, 306.) Wenn nicht der nächste und unmittelbarste Zweck unseres Lebens das Leiden ist; so ist unser Dasein das Zweckwidrigste auf der Welt. Denn es ist absurd anzunehmen, dass der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Not entspringende Schmerz, wovon die Welt überall voll ist, zwecklos und rein zufällig sein sollte. (P. II, 312.) Wenn die Welt und das Leben Selbstzweck sein und demnach theoretisch keiner Rechtfertigung, praktisch keiner Entschädigung oder Gutmachung bedürfen sollten; dann müssten nicht etwa die Leiden und Plagen des Lebens durch die Genüsse und das Wohlsein in demselben völlig ausgeglichen werden, sondern es müsste ganz und gar keine Leiden geben und auch der Tod nicht sein, oder nichts Schreckliches für uns haben. Nur so würde das Leben für sich selbst bezahlen. (W. II, 659 fg.) Alter und Tod, zu denen jedes Leben notwendig hineilt, sind das aus den Händen der Natur selbst erfolgende Verdammungsurteil über den Willen zum Leben, welches aussagt, dass dieser Wille ein Streben ist, das sich selbst vereiteln muss. Was du gewollt hast, spricht es, endigt so; wolle etwas Besseres. — Also die Belehrung, welche Jedem sein Leben gibt, besteht im Ganzen darin, dass die Gegenstände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Qual als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf dem sie sämtlich stehen, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, dass all sein Streben und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war. (W. II, 656 fg.) Das menschliche Dasein, weit entfernt, den Charakter eines Geschenks zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahierten Schuld. Die Einforderung derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Dasein gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Not. Auf Abzahlung dieser Schuld wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet; doch sind damit erst die Zinsen getilgt. Die Kapitalabzahlung geschieht durch den Tod. — Und wann wurde diese Schuld kontrahiert? — Bei der Zeugung. Wenn man demgemäß den Menschen ansieht als ein Wesen, dessen Dasein eine Strafe und Buße ist; — so erblickt man ihn im richtigen Lichte. (W. II, 663. 650.) Der Wert des Lebens besteht gerade darin, das es uns lehrt, es nicht zu wollen. (P. II, 343.) (Vergl. auch: Heilsordnung und unter Dasein: Zweck des Daseins.)