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Schopenhauers Kosmos

 

 Gewissen.

1) Gegenstand des Gewissens.

Die Vorwürfe des Gewissens betreffen zwar zunächst und ostensibel Das, was wir getan haben, eigentlich und im Grunde aber Das, was wir sind, als worüber unsere Taten allein vollgültiges Zeugnis ablegen, indem sie zu unserm Charakter sich verhalten, wie die Symptome zur Krankheit. Unser Esse (was wir sind), worin allein unsere Freiheit und Verantwortlichkeit liegt, bildet den eigentlichen Gegenstand unserer Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit uns selbst. Die immer vollständiger werdende Bekanntschaft mit uns selbst, das immer mehr sich füllende Protokoll der Taten ist das Gewissen. Das Thema des Gewissens sind zunächst unsere Handlungen nach ihrer ethischen Bedeutsamkeit, ihrer Moralität oder Immoralität. Die immer reicher werdende Erinnerung der in dieser Hinsicht bedeutsamen Handlungen vollendet mehr und mehr das Bild unseres Charakters, die wahre Bekanntschaft mit uns selbst, und aus dieser erwächst Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit uns, mit dem was wir sind, je nachdem Egoismus oder Mitleid vorgewaltet haben. Auch die Vorwürfe, die wir Anderen machen, oder das Lob, die Hochachtung, die wir ihnen zollen, sind nur zunächst auf die Taten, eigentlich aber auf den unveränderlichen Charakter derselben gerichtet. (E. 256 fg. 95. 177 fg.)

2) Voraussetzungen des Gewissens.

Das Gewissen setzt nicht bloß Freiheit des Esse (des Charakters) voraus, sondern auch Unveränderlichkeit desselben. Auf der Unveränderlichkeit des Charakters beruht die Möglichkeit des Gewissens, sofern dieses oft noch im späten Alter die Untaten der Jugend uns vorhält, wie z. B. dem J. J. Rousseau, nach 40 Jahren, dass er die Magd Marion eines Diebstahls beschuldigt hatte, den er selbst begangen. Dies ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Charakter unverändert der selbe geblieben. (E. 51.) Nur weil der Wille nicht der Zeit unterworfen ist, sind die Wunden des Gewissens unheilbar, werden nicht, wie andere Leiden, allmählich verschmerzt; sondern die böse Tat drückt das Gewissen nach vielen Jahren mit eben der Stärke, als da sie frisch war. (H. 398.) Das Vergangene wäre gleichgültig, als bloße Erscheinung, und könnte nicht das Gewissen beängstigen, fühlte sich nicht der Charakter frei von aller Zeit und durch sie unveränderlich, so lange er nicht sich selbst verneint. (W. I, 433. 357)
Durch Vernunft ist das Gewissen bloß deshalb bedingt, weil nur vermöge ihrer eine deutliche und zusammenhängende Rückerinnerung möglich ist. (E. 257.)

3) Warum nur Taten, nicht Wünsche und Gedanken das Gewissen beschweren.

Allein der Entschluss, nicht aber der bloße Wunsch ist eigentliches Zeugnis des Charakters. Der Entschluss aber wird allein durch die Tat gewiss. Der Wunsch ist bloß notwendige Folge des gegenwärtigen Eindrucks und ist daher so unmittelbar notwendig und ohne Überlegung, wie das Tun der Tiere, drückt daher auch, wie dieses, bloß den Gattungscharakter, nicht den individuellen aus. (Vergl. Entschluss) Daher beschweren, bei gesundem Gemüte, nur Taten das Gewissen, nicht Wünsche und Gedanken. Denn nur unsere Taten halten uns den Spiegel unseres Willens vor. Die völlig unüberlegt und im blinden Affekt begangene Tat ist gewissermaßen ein Mittelding zwischen bloßem Wunsch und Entschluss; daher kann sie durch wahre Reue, die sich aber auch als Tat zeigt, ausgelöscht werden aus dem Bilde unseres Willens, welches unser Lebenslauf ist. (W. I, 354. E. 169 fg.)

4) Warum das Gewissen erst nach der Tat spricht.

Da das Gewissen die nähere und immer intimer werdende Bekanntschaft mit der moralischen Beschaffenheit unseres Willens ist, wir diese Beschaffenheit aber erst aus unseren Handlungen empirisch kennen lernen, so liegt es in der Natur der Sache, dass das Gewissen direkt erst hinterher (nach der Handlung) spricht, weshalb es auch das richtende Gewissen heißt. Vorher sprechen kann es nur indirekt, indem die Reflexion aus der Erinnerung ähnlicher Fälle auf die künftige Missbilligung einer erst projektierten Tat schließt. (E. 95. 257.) Hieraus scheint sogar die Etymologie des Wortes Gewissen zu beruhen, indem nur das bereits Geschehene gewiss ist. (E. 169 fg.)

5) Ursprung der Gewissenspein und ihres Gegenteils.

Der Bosheit ist eine besondere Pein beigesellt, welche bei jeder bösen Handlung fühlbar wird und, nach der Länge ihrer Dauer, Gewissensbiss, oder Gewissensangst heißt. Diese Pein entspringt aus einer zwiefachen Erkenntnis. Es regt sich nämlich trotz der Befangenheit des Bösen im principio individuationis, d. h. trotzdem er seine Person von jeder anderen als absolut verschieden und durch eine weite Kluft getrennt ansieht, doch im Innersten seines Bewusstseins die geheime Ahndung, dass, so sehr auch Zeit und Raum ihn von andern Individuen und deren Qualen, die sie leiden, ja durch ihn leiden, trennen, dennoch diese Ordnung der Dinge nur Erscheinung ist, an sich hingegen der Quäler mit dem Gequälten identisch ist, da es der eine Wille zum Leben ist, der in Allen erscheint und der hier nur, sich selbst verkennend, seine Waffen gegen sich selbst wendet und indem er in einer seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlsein sucht, eben dadurch in der anderen Qual leiden muss.
Außerdem entspringt die Gewissenspein noch aus einer zweiten, mit jener ersten genau verbundenen, unmittelbaren Erkenntnis, nämlich der der Stärke, mit welcher im bösen Individuum der Wille zum Leben sich bejaht, welche weit über seine individuelle Erscheinung hinausgeht, bis zur gänzlichen Verneinung des selben, im fremden Individuum erscheinenden Willens. Das innere Entsetzen folglich des Bösewichts über seine eigene Tat enthält neben jener Ahndung der bloßen Scheinbarkeit des zwischen ihm und Anderen gesetzten Unterschiedes zugleich auch die Erkenntnis der Heftigkeit seines eigenen Willens. Er erkennt sich als konzentrierte Erscheinung des Willens zum Leben, fühlt bis zu welchem Grade er dem Willen zum Leben und damit auch den dem Leben wesentlichen zahllosen Leiden anheimgefallen ist. — Also neben der bloß gefühlten Erkenntnis der Scheinbarkeit und Nichtigkeit der die Individuen absondernden Formen der Vorstellung (Raum und Zeit), ist es die Selbsterkenntnis des eigenen Willens und seines Grades, welche dem Gewissen den Stachel gibt. (W. I, 431—434. M. 733. H. 340.)
Das Gegenteil der Gewissenspein ist das gute Gewissen, die Befriedigung, welche wir nach jeder guten Tat verspüren. Sie entspringt daraus, dass solche Tat, wie hervorgegangen aus dem Wiedererkennen unseres eigenen Wesens an sich auch in der fremden Erscheinung, so uns auch wiederum die Beglaubigung dieser Erkenntnis gibt, und dadurch sich das Herz erweitert fühlt, wie durch den Egoismus zusammengezogen. Der Egoist fühlt sich von fremden und feindlichen Erscheinungen umgeben, und alle seine Hoffnung ruht auf dem eigenen Wohl. Der Gute lebt in einer Welt befreundeter Erscheinungen; das Wohl einer jeden derselben ist sein eigenes. Daher die Gleichmäßigkeit und Heiterkeit der Stimmung des Guten. Denn der über unzählige Erscheinungen verbreitete Anteil kann nicht so beängstigen, wie der auf eine konzentrierte. (W. I, 441 fg.)

6) Das unechte Gewissen.

Es gibt ein unechtes Gewissen (conscientia spuria), das oft mit dem natürlichen Gewissen verwechselt wird. Die Reue und Beängstigung, welche Mancher über seine Taten empfindet, ist oft im Grunde nichts Anderes, als die Furcht vor Dem, was ihm geschehen kann. Die Verletzung äußerlicher, willkürlicher und sogar abgeschmackter Satzungen quält Manchen mit inneren Vorwürfen, ganz nach Art des Gewissens. Mancher würde sich wundern, wenn er sähe, woraus sein Gewissen, das ihm ganz stattlich vorkommt, eigentlich zusammengesetzt ist, etwa aus 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurteil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit. — Religiöse Leute, jedes Glaubens, verstehen unter Gewissen sehr oft nichts Anderes, als die Dogmen und Vorschriften ihrer Religion und die in Beziehung auf diese vorgenommene Selbstprüfung. — Wie wenig der Begriff des Gewissens, gleich anderen Begriffen, durch sein Objekt selbst festgestellt ist, wie verschieden er von Verschiedenen gefasst worden, wie schwankend und unsicher er bei den Schriftstellern erscheint, kann man aus Ständlins Geschichte der Lehre vom Gewissen ersehen. (E. 192 fg.)

7) Das Intellektuelle Gewissen.

Es gibt eine Intellektuelle Schlechtigkeit, wie eine moralische, folglich auch ein Intellektuelles Gewissen, vermöge dessen jeder Sophist und Afterweise weiß, dass er ein solcher ist. (H. 399.)

8) Kritik der juridisch-dramatischen Form des Gewissens bei Kant.

Die ganze juridisch-dramatische Form, in der Kant das Gewissen darstellt (als einen vollständigen Gerichtshof im Inneren des Gemütes mit Prozess, Richter, Ankläger, Verteidiger, Urteilsspruch), ist dem Gewissen völlig unwesentlich und keineswegs eigentümlich. Vielmehr ist sie eine viel allgemeinere Form, welche die Überlegung jeder praktischen Angelegenheit leicht annimmt und die hauptsächlich entspringt aus dem dabei meistens eintretenden Konflikt entgegengesetzter Motive, deren Gewicht die Vernunft sukzessive prüft; wobei es gleichviel ist, ob diese Motive moralischer, oder egoistischer Art sind, und ob es eine Deliberation des noch zu Tuenden, oder eine Rumination des schon Vollzogenen betrifft. (E. 170—174.)